zum Hauptinhalt
Grundkenntnisse nachholen. Wer in der Grundschule lange krank ist oder Probleme mit Sehen und Hören hat, kann zum Analphabeten werden. Im Potsdamer Grundbildungszentrum können Betroffene lesen und schreiben lernen. Foto: Bernd Wüstneck/dpa

© picture alliance / dpa

Grundbildung in Potsdam: Oft wird jahrelang geschwiegen

Im Potsdamer Grundbildungszentrum können Analphabeten Lesen und Schreiben lernen. Die meisten kostet es viel Überwindung, bis sie den ersten Schritt wagen.

Es fing in der Grundschule an: Weil sie nicht richtig Lesen und Schreiben konnte, wurde sie von anderen Schüler gemobbt und als dumm bezeichnet. Schon in der ersten Klasse hatten Ärzte bei der 33-Jährigen Potsdamerin, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche diagnostiziert. „Ich bin immer mit Angst zur Schule gegangen“, sagt sie. Entsprechend schwer fiel ihr das Lernen, vor allem, als dann noch eine längere Erkrankung dazu kam. Lesen üben wollte sie fast nur noch zu Hause. Nach ihrem Förderschulabschluss fing sie an, als Alltagsbegleiterin im Seniorenheim zu arbeiten – ein Job, in dem man nur wenig lesen und schreiben muss. Die Potsdamerin ist eine von 7,5 Millionen so genannten funktionalen Analphabeten in Deutschland.

Keine Frage der Intelligenz

Die wenigsten von ihnen könnten überhaupt nicht lesen und schreiben, erklärt Katrin Wartenberg, Leiterin des Potsdamer Grundbildungszentrums, das an die Volkshochschule angegliedert ist. Einige könnten nur einzelne Buchstaben oder Wörter schreiben, die meisten von ihnen ganze Sätze formulieren, allerdings mit zu vielen Fehlern, so Wartenberg. Außerdem falle es den Betroffenen schwer, lange Texte zu lesen und zu verstehen. „Das hat nichts mit Intelligenz zu tun“, betont die Leiterin des Zentrums. Die Gründe für Analphabetismus seien divers – eine Krankheit im Grundschulalter, körperliche Ursachen wie Hör- oder Sehschwächen, mangelnde Förderung der Eltern und Lernschwierigkeiten. Oft sei es eine Mischung aus mehreren Faktoren, so Wartenberg. „Lesen und Schreiben ist ein hochkomplexer Prozess.“ Wenn man das als Kind nicht richtig lerne, sei es schwierig, das später nachzuholen, weiß Wartenberg. Aber es ist möglich.

Um die Betroffenen aufzufangen und auf die Angebote des Grundbildungszentrums aufmerksam zu machen, hat das Alfa-Mobil am Donnerstag anlässlich des Weltalphabetisierungstages am 8. September vor dem Potsdamer Bildungsforum gehalten. Vertreter des Bundesverbandes Alphabetisierung informierten über Hilfsangebote, Interessierte konnten sich mit ehemaligen Betroffenen austauschen. Außerdem informierten Vertreter des Potsdamer Grundbildungszentrums über das Kursangebot mit kostenlosen Schreib- und Lesekursen. Jeden Mittwoch findet in der zweiten Etage des Bildungsforums außerdem ein offenes Lerncafé Deutsch statt. „Unser Ziel ist es, das Analphabetisierungsthema aus der Tabu-Ecke herauszuholen“, sagt Wartenberg. Durch stärkere Öffentlichkeitsarbeit seien die Teilnehmerzahlen des Grundbildungszentrums, das auch Basiskurse für Mathe und Computer anbietet, mit den Jahren gewachsen. Laut Statistik der VHS sind es in diesem Jahr 370, 2016 waren es noch 166 Kursbesucher.

Mitwissendes Umfeld ist wichtig, um Betroffene zu erreichen

Um die Betroffenen zu erreichen, müssen beim Thema Analphabetismus viele Hebel in Bewegung gesetzt werden. Über Flyer, die Homepage und Facebook macht das Zentrum auf sein Angebot aufmerksam. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch Multiplikatoren und das mitwissende Umfeld, um Betroffene zu einem Kurs anzuregen, sagt Wartenberg. Wichtig sei auch die Zusammenarbeit mit Netzwerkpartnern wie dem Jobcenter, dem Regionalen Arbeitskreis der Jugendhilfe oder der Industrie- und Handelskammer.

Die Hemmschwelle für Betroffene, erste Schritte zu unternehmen, bleibt dennoch groß. Denn eine Kursanmeldung bedeutet zugleich, vorerst fremden Menschen sein Defizit zu offenbaren. „Ich habe mich eine ganze Weile nicht getraut, hierher zu kommen“, erzählt die 33-jährige Kursteilnehmerin. Mehrmals habe sie vor der Eingangstür des Bildungsforums gestanden und sei doch wieder umgekehrt. Irgendwann schaffte sie es in die zweite Etage des Gebäudes, wo VHS und Grundbildungszentrum beheimatet sind. „Dieser Schritt ist am schwierigsten. Das wissen wir von ganz vielen“, sagt Wartenberg. Viele würden in Tränen ausbrechen, wenn sie bei ihnen ankommen. Der Druck falle plötzlich ab. „Oft haben sie vorher niemandem davon erzählt“, ist die Erfahrung der Leiterin. Auch im Umfeld der betroffenen Potsdamerin, die an einer Abendschule inzwischen ihren Hauptschulabschluss nachholt, wüssten nur wenige davon. Nach ihrem Start im Grundbildungszentrum, wo sie andere Betroffene kennengelernt hat, konnte sie sich endlich offen zeigen. „Auch Menschen mit Einschränkung sollten am Leben teilhaben und sich nicht verstecken“, sagt sie.

https://vhs.potsdam.de/vhsneu/grundbildungszentrum-der-vhs-potsdam/

Birte Förster

Zur Startseite