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Michael Heinze ist Referent für Eingliederungshilfe und Gewaltschutzbeauftragter bei Oberlin.

© Andreas Klaer

Gewaltschutzbeauftragter im Oberlinhaus: Stimme gegen die Sprachlosigkeit

Michael Heinze ist Gewaltschutzbeauftragter bei Oberlin. Nach der Bluttat 2021 im Thusnelda-von-Saldern-Haus ist er besonders gefordert. 

Potsdam - Wie um Hilfe rufen, wenn man nicht sprechen kann? Wie Missstände mitteilen, wenn man gelähmt ist, die Hände nicht für Gebärden einsetzen kann? „Es gibt Möglichkeiten“, sagt Michael Heinze. Sie wurden schon vorher genutzt, sollen nun, nach den Morden an vier Bewohnern vor 13 Monaten im Babelsberger Thusnelda-von-Saldern-Haus, ausgebaut werden. Symboltafeln können eingesetzt werden, Tablets, die über Augenbewegungen gesteuert werden. Oder Smartphones mit Talker-Funktion, die die Eingabe von Symbolen oder Schrift in Lautsprache übersetzen. Unterstützte Kommunikation nennt man diese Möglichkeiten, die Michael Heinze derzeit verstärkt in den Blick nimmt. „Den Menschen, mit denen wir arbeiten, zuzuhören, das ist aktiver Gewaltschutz“, sagt er. 

Vom Schornsteinfeger zum Ergotherapeuten 

Seit Januar ist der 43-Jährige offizieller Gewaltschutzbeauftragter im Oberlinhaus, das nach der Attacke der psychisch kranken Pflegekraft Ines R. auf insgesamt fünf schwerstbehinderte Bewohner:innen im April 2021 deutschlandweit in den Schlagzeilen steht. Das Thema Gewalt gegen Behinderte ist seitdem in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. 

Die Menschenrechts- und Behindertenorganisation AbilityWatch hat nach den Morden ein Rechercheprojekt zu Gewalt an Menschen mit Behinderungen gestartet und seit 2010 Nachweise auf 91 betroffene Opfer in bundesweit 33 vollstationären Einrichtungen erhalten. Bekanntestes Mitglied des Projekts ist der Aktivist Raul Krauthausen. Ein Begriff taucht nun immer häufiger in den Debatten auf: „Ableismus“, gesprochen Äbel-ismus, abgeleitet vom Englischen Ableism. Er bezeichnet die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten, was als behindertenfeindlich angesehen wird. Titel des Rechercheprojekts: „Ableismus tötet“. 

„Ich finde das super, was sie machen“, sagt Heinze, auch mit der deutlichen Wortwahl. Denn so bekämen Behinderte und ihre Anliegen Aufmerksamkeit. Gleichzeitig betont er, dass das Oberlinhaus Gewaltprävention nicht erst seit der Bluttat betreibe. Seit zwölf Jahren arbeitet der Berliner bei Oberlin. Genauso lange war er zuvor Schornsteinfeger, ehe er sich zu einem Berufswechsel entschloss. 

Der Vater eines Sohnes machte eine zweite Ausbildung zum Ergotherapeuten, kam als Praktikant zu Oberlin, arbeitete mit Kindern und Jugendlichen mit Autismusspektrum-Störung. 2012 absolvierte er eine Trainerausbildung, ist Referent für Eingliederungshilfe und Deeskalationsmanager. Gewaltschutz ist seit Jahren seine Aufgabe, von Selbstverteidigungskursen für Rollstuhlfahrer bis hin zu Fortbildungen und Gesprächen mit den Mitarbeitern. Dass er nun offiziell als Gewaltschutzbeauftragter benannt wurde, habe einen Grund: Oberlin habe auch nach außen sichtbar machen wollen, dass es einen speziellen Ansprechpartner für Bewohner, Angehörige und Mitarbeiter gibt. 

Anti-Gewalt-Trainings sind obligatorisch für die Mitarbeiter 

„Wir sind auf einem guten Weg, aber Konzepte müssen geprüft und ausgebaut werden“, so Heinze. Mehr unterstützte Kommunikation für die Bewohner einzusetzen sei das eine, aber auch Mitarbeiter müssten weiter sensibilisiert werden. Ein dreitägiges Anti-Gewalt-Training sei schon lange für alle Mitarbeiter obligatorisch. Aber das reiche nicht, sagt Heinze, der nun auch Fachtage für die Mitarbeiter organisiert, etwa zur Sexualpädagogik. 

Sexualisierte Gewalt trifft vor allem behinderte Frauen 

Vor allem Frauen mit Behinderung sind häufig von sexualisierter Gewalt betroffen. Zu dem Ergebnis kam schon vor zehn Jahren eine Studie im Auftrag des Bundesfrauenministeriums. Jede dritte bis vierte Frau mit Behinderung hat in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erfahren, so der Befund. Das ist zwei- bis dreimal häufiger als bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. „Strukturen in den Einrichtungen können Gewalt fördern und begünstigen“, heißt es in der Studie. 

Die Arbeit mit Behinderten erfordere Körperkontakt, erläutert Heinze. „Aber es gibt ganz klare Regeln.“ Eine lautet: „Küssen gibt’s nicht.“ Berührungen im Intimbereich seien nur bei der Körperpflege zulässig. 

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Die Balance zwischen Mitarbeiterkontrolle und Bewohnerschutz zu wahren, sei eine Gradwanderung. Auf der einen Seite sei es gut, wenn während des Waschens nicht nur eine Person im Raum sei, die Tür zum Zimmer einen Spaltbreit aufbleibe – gleichzeitig könne das die Privat- und Intimsphäre des Bewohners stören. 

Heinze nennt ein anderes Beispiel: Ein 42-jähriger Mann, der auf dem emotionalen Stand eines sechsjährigen Kindes ist, hat ein Bedürfnis nach Nähe. Darf man ihn in den Arm nehmen? „Ja“, sagt Heinze, „ganz klar“. Ihm diese Zuwendung zu verwehren, könne auch eine Form von Gewalt sein. Genauso, wie eine Bewohnerin mit „Mäuschen“ anzusprechen. 

Viele Bewohner litten unter einem Trennungstrauma 

Bekommt er Kenntnis von einem mutmaßlichen Vorfall, versucht Heinze, die Bewohner zu lesen. Wenn jemand einen Schrank zertrümmere, könne das viele Ursachen haben. „Wir sprechen bei den Bewohnern nicht von Aggression“, sagt Heinze. Aggression sei bewusstes Handeln. Viele hätten ein „Trennungstrauma“, das sich auf verschiedene Art äußern könne. 

Die jüngst vom Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel und dem Institut für Menschenrechte erhobene Forderung nach einer Gesellschaft ohne Heime, hält er dennoch für falsch. Heime in der heutigen Zeit seien keine Einrichtungen, in denen Menschen gegen ihren Willen am Stadtrand „weggesperrt“ werden. „Unsere Häuser sind offen.“ Anfeindungen gegen Behinderte habe er in Babelsberg noch nicht erlebt. „Jedem, der dennoch lieber in den eigenen vier Wänden betreut werden möchte, sollte das ermöglicht werden“, sagt er . Gleichzeitig sei es aber viel schwerer, Übergriffe von ambulanten Diensten festzustellen. 

Hätte die Gewalttat verhindert werden können? 

Aber, sagt Heinze: „Auch mit dem besten Gewaltschutzkonzept wäre diese Tat im Thusnelda-von-Saldern-Haus nicht zu verhindern gewesen.“ Es habe im Vorfeld keine Alarmsignale gegeben. Als „mütterlich“ war Ines R., selbst Mutter eines behinderten Sohnes, im Prozess vor dem Landgericht beschrieben worden, als eine den Bewohnern zugewandte Pflegekraft. „Wer Böses im Schilde führt, wird einen Weg finden“, sagt Michael Heinze. 

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