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Geschichte: Für Benzin und Öl an der Haustür klingeln

Die Wand ist die älteste Werbefläche der Welt. Zur Geschichte der Fassadenschriften haben der Maler Olaf Thiede und Andreas Patzak jetzt ein berührendes Fotobuch herausgegeben.

Potsdam - „Molkerei & Milchkuranstalt/Eigene Kuhhaltung/unter tierärztlicher Kontrolle“ – so steht es an einer Fassade in Cottbus. In Berlin heißt es: „Melkezeit früh 6 Uhr, Mittag 12 Uhr“. Die Abendzeit ist nicht mehr leserlich. In einem Potsdamer Hinterhof findet sich „Büro u. Lager – Meierei Otto Bolle“. Und in Tangermünde gibt es schon Margarine, „ersetzt beste Butter“ kann man an einem alten Fachwerkhaus entziffern.

Die Geschichte von Milch und Streichfetten ist nur ein Teil der historischen Fassadenwerbung, die im neuen Buch von Olaf Thiede und Ko-Autor Andreas Patzak erzählt wird. Mit Fotos, die in Potsdam, Berlin und vielen Kleinstädten der Mark, in Hinterhöfen oder Hauptstraßen entstanden – und den Alltag als auch die Art der Gestaltung und Präsentation vor etwa 100 Jahren wiedergeben. „Die Farben der Zeit“ ist das Buch betitelt.

Die Welt von damals war bunt

Auch wenn sie heute verwittert und verblichen sind: Die Welt von damals war bunt, aber von einer eher differenzierten, lebendigen Farbigkeit, die im starken Kontrast zu heute oft schrillen und schnelllebigen Gestaltungspraktiken steht, sagt der Maler und Grafiker Olaf Thiede. Die Farben jener Zeit sind aber weit mehr als ein Bilderbuch zur Gebrauchswerbung: Sie erzählen vom Lebensraum Stadt und Straße, so wie er Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aussah und sich dann über die Jahrzehnte ins Jetzt rettete.

Fast 350 Seiten mit Fotos sowie Erläuterungen zu Begriffen und historischem Hintergrund haben Thiede und Patzak zusammengestellt. Immer wieder sind sie dafür in den 1990er-Jahren übers Land gefahren, Thiede, der gelernte Buchdrucker, Grafiker und Maler mit sicherem Blick für die Besonderheiten seiner Umwelt - und Patzak, sein Schulfreund, der die Arbeit am Buch als Ausgleich zu seiner Tätigkeit als Professor an der Charité empfand. Im Osten fanden sie, kaum überraschend, weit mehr Fotomotive: Der Sanierungsrückstand der Republik war ein Glücksfall für ihr Anliegen.

Ihre Funde fotografierten sie schnörkellos und direkt. Die Draufsicht und die Wahl der Bildausschnitte macht sie zu plakativen Kunstwerken. In denen, wenn man genau hinschaut, eine Menge Stil und Farbigkeit steckt. Typografie, Gestaltung und Orthografie machen es dabei möglich, die Schriften recht zeitgenau einzuordnen. Vor der Rechtschreibreform von 1901 gab es beispielsweise das Brod mit d, die Wage mit einem a und Dehnungstrich. Auch der seltsame Punkt, der sich bisweilen hinter einzelnen Wörtern und Namen findet, war nur bis 1901 üblich.

Hotel mit Ausspannung

Die Bilder sind Erinnerung, Archiv und ein Schatz, der heute fast gänzlich verschwunden ist. Was noch erhalten ist, steht meist unter Denkmalschutz. Beim Durchblättern taucht man ein in das Leben um 1900, als man Kolonialwaren einkaufen ging und Trikotagen. Als der Friseur mit „Dauerwelle“ warb und das Hotel mit „Ausspannung“, weil mit Pferd und Wagen Reisende hier ihre Pferde ausgespannt und versorgt bekamen. Später wurden solche Schilder mit „Auto-Garage“ ergänzt und es gab „Derunapht. Dieselkraftstoff. Klingel für Benzin und Oel an der Haustür“.Die Nachfrage war vermutlich nicht sehr groß.

Völlig verschwunden aus dem Stadtbild sind heute Orte wie „Einkauf von Lumpen und Metallen“ oder die als „Billigste Bezugsquelle für Wiederverkäufer“ warben. Alles wurde irgendwo gesammelt oder konnte getauscht werden. Die ganz Armen konnten sich „abends v. ½ 6 Kartoffelschalen, Erwerbslosen und Fürsorgeka...“ abholen. In Berlin verwies der Schriftzug „Gnadenhütte“ auf ein Hospiz für die Ärmsten.

An den Hauswänden wurden zudem Kneipen und Kohlenhandlungen angezeigt, es wurde für Rasier-Salons und Phonographen geworben, für Wettbüros und Jugendheime. Die Botschaften und Namen wurden aufgemalt oder aus Stuck aufgebracht. Sie verblichen, wurden übermalt, platzten ab oder verschwanden im Krieg. Viele überlebten und funktionierten bis in die 70er- und 80er- Jahre – in der DDR wurden HO und VEB häufig nur dazu- oder darüber gemalt.

Wirtschaftsgeschichte mehrerer Jahrzehnte

Das Buch dokumentiert folglich auch die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mehrerer Jahrzehnte. Die kleinen Händler und Gewerke verschwanden aus der Stadt und siedelten sich in Gewerbegebieten am Stadtrand an. Auf dem Bild mit dem Schriftzug „Woll- und Weißwaren“ lassen Fenster mit Gardinen darauf schließen, dass sich dort längst eine Wohnung befindet. Die Gentrifizierung ist keine neue Erfindung.

Thiede will das Buch auch als Aufruf für eine neue Aufmerksamkeit gegenüber Architekturbelangen verstehen. Oft würde eine einfallslose Moderne Häuser ersetzen, die einst nach bewährten Regeln und Lehren der alten Baumeister entstanden. Und die „Farben der Zeit“ würden zu oft mit sterilem Weiß ersetzt. „Das macht krank und arm im Geiste“, sagt Thiede. Der Maler wünscht sich eine neue Sensibilität für gestalterische Kostbarkeiten, wie es sie leider nur noch selten gebe. Aber man könne das Sehen lernen, sagt Thiede. Sogar Jugendliche ließen sich für das Buch begeistern, sagt der Maler. „Die finden das so schön morbide.“

„Die Farben der Zeit“ von Olaf Thiede und Andreas Patzak kostet 35 Euro und ist auch im Potsdamer Buchhandel erhältlich

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