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Landeshauptstadt: Geschichte freiwischen

In der Gedenkstätte Lindenstraße trafen sich ehemalige Häftlinge zur Putzaktion – für eine neue Ausstellung ab Juni

30 Jahre ist es her, dass Sibylle Schönemann die Zelle mit der Nummer 51 zum ersten Mal betreten hat. Im November 1984 wurden sie und ihr Mann von der DDR-Staatssicherheit von der Straße weg verhaftet. „Wir waren die ersten von den jungen Defa-Regisseuren, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten“, erzählt die 60-Jährige: „Man wollte an uns ein Exempel statuieren.“ Die Stasi strickte dem Paar mit zwei sechs und zehn Jahre alten Kindern aus dem Ausreiseantrag den Vorwurf der „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit durch Drohung“. Bis im Februar 1985 die Urteile fielen, saßen sie im Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße ein – getrennt voneinander. Einmal pro Woche bekamen sie ein Blatt Papier und einen Bleistift und durften einen Brief schreiben – entweder an die Kinder, die bei Verwandten untergekommen waren, oder an den Ehepartner wenige Zellen weiter. „Sowas ist psychische Folter“, sagt Sibylle Schönemann.

Am gestrigen Dienstagnachmittag war sie zurück in Zelle 51 auf der dritten Etage des ehemaligen Gefängnisses in der Innenstadt. Gemeinsam mit einem knappen Dutzend Helfer, darunter auch andere ehemalige Häftlinge und Brandenburgs Diktatur-Aufarbeitungsbeauftragte Ulrike Poppe, schrubbte sie mit Schwamm und Wasser die weiße Farbe von der Zellenwand, bis der dunklere Farbton darunter wieder zum Vorschein kam. So hat die Regisseurin, die heute von Erwerbsunfähigkeitsrente lebt – auch das eine der Folgen der Haft –, ihren Haftort in Erinnerung: düster. Durch die mit Glassteinen vermauerten Fensteröffnungen zum Innenhof sei nicht einmal auszumachen gewesen, welches Wetter draußen herrschte. Und die Wände waren gestrichen „in dieser Kackfarbe“, wie Sibylle Schönemann es nennt.

Dietrich Richter spricht etwas diplomatischer von nikotingelb. Es ist die vorletzte von sechs Farbschichten, die der Diplomrestaurator bei der Vorarbeit für den gestrigen Einsatz freigelegt hat. In insgesamt vier Zellen des früheren Stasi-Untersuchungsgefängnisses soll die ursprüngliche Farbgebung wieder erlebbar werden, erklärt Richter. Der beinahe schon freundliche weiße Anstrich, der bisher dort zu sehen war, stamme aber nicht etwa aus der Wendezeit, sondern wurde erst innerhalb der vergangenen 15 Jahre aufgetragen – ausgerechnet in der Zeit, in der die Gefängniszellen unter anderem als Lagerräume für die städtische Denkmalschutzbehörde dienten. Wer genau für die „Renovierung“ verantwortlich ist, sei nicht sicher, sagt Richter. Klar sei aber: „Der Zelleneindruck ist dadurch erheblich anders.“ Denn das dunklere Nikotingelb an den Wänden schluckte deutlich mehr Licht, wie schon nach kurzem Einsatz mit dem Schwamm wieder zu erahnen ist. Wünschenswert sei, dass nach und nach alle Zellen wieder in den Originalzustand versetzt werden, sagt Richter. Aber das kostet. Der 46-Jährige, der selbst auch DDR-Häftling war, hofft darum auf eine Zusammenarbeit mit angehenden Restauratoren von der Fachhochschule Potsdam.

In den jetzt hergerichteten Zellen sollen ab Juni vier Filme des Berliner Künstlers Stefan Roloff gezeigt werden: Roloff hat mit ehemaligen Inhaftierten gesprochen, erstmals zu sehen waren einige seiner Interviewfilme bereits 2012 in der Gedenkstätte. Ab Juni wird nun unter anderem ein Gespräch mit dem 2013 gestorbenen Potsdamer Bürgerrechtler Bob Bahra gezeigt. Häftlinge aus vier Jahrzehnten hat Roloff für die Ausstellung ausgewählt, die am 11. Juni eröffnen soll.

Die Ex-Häftlinge sind dabei nur als Silhouette zu sehen – aus zwei Gründen, wie Roloff erklärt: Einerseits sollen ihre Schicksale auch für die vielen Schicksale derer stehen, die heute aus den verschiedensten Gründen nicht über die Schrecken ihrer Haftzeit reden können. Andererseits entstehe durch die Form auch eine größere Unmittelbarkeit: „Als Zuhörer ist man nicht von Gesichtern abgelenkt, die reine Energie der Körpersprache wird fühlbar.“ Und die werde auch bei einem 70-Jährigen wieder jugendlich, wenn er über eine mehrere Jahrzehnte zurückliegende Zeit erzählt.

Roloff, der viele Jahre in New York lebte, arbeitet an einer Art Film-Erinnerungsarchiv mit Zeitzeugenberichten zur DDR-Diktatur, das er seit 2006 im Internet auf seiner Seite mit der Adresse www.when6is9.com aufbaut. Zu sehen waren einige der Filme auch unter anderem bereits im Pariser Centre Pompidou, im Museo Reina Sofia in Madrid und im Haus der Kulturen in Berlin. Die Idee für das Projekt kam ihm nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, erzählt der 60-jährige Künstler: Auf das Potsdamer Gefängnis stieß er bei den Dreharbeiten für einen Film über den Gefängnisaufenthalt seines Vaters während der NS-Zeit.

Auch Sibylle Schönemann hat 1990 einen Film über ihre Haft und die Zeit danach gedreht. „Verriegelte Zeit“ heißt er. und Schönemann hat dafür 2001 den Deutschen Filmpreis gewonnen. Ab und an wird der Film auch in der Gedenkstätte Lindenstraße gezeigt, erzählt die Regisseurin. Deswegen ist sie als Zeitzeugin immer mal wieder in ihrem alten Haftort. Was die Rückkehr mit ihr macht? „Es ist unberechenbar: Manchmal gar nichts, manchmal ist es ganz schlimm.“

Seit sieben Jahren wohnt Sibylle Schönemann wieder in Potsdam, auch die Kinder sind mittlerweile zurückgekehrt in die frühere Heimat. Im Rahmen einer Häftlings-Freikaufaktion wurden die Schönemanns 1985 nach Westdeutschland abgeschoben, kamen erst nach Gießen, dann nach Hamburg. Sechs Wochen mussten sie dort noch warten, ehe sie auch die beiden Kinder nach mehreren Monaten Haft endlich wiedersehen konnten. „Sie durften zwei Taschen mit Spielzeug mitnehmen, alles andere aus unserer Wohnung hat die Stasi konfisziert“, erzählt Sibylle Schönemann und schüttelt den Kopf: „Das war unmenschlich.“ Dann wringt sie den Schwamm aus und wischt ein weiteres Stück Weiß weg von der Wand.

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