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Gertrud Gaudig feierte ihren 103. Geburtstag im DSG Pflegewohnstift in Babelsberg.

© Andreas Klaer

Gertrud Gaudig feierte ihren 103. Geburtstag: Ein Berliner Unikat in Babelsberg

Gertrud Gaudig wurde am Montag 103 Jahre alt. Noch immer kann sie lebhaft erzählen – von ihrer wilden Ehe oder der Flucht im Krieg

Potsdam - Der Schützenverein krönt sie noch mit 99 Jahren zur Edelweißkönigin. Auf ihrem Laptop spielt sie Karten und surft im Internet. „Bargeld? Nein, ich bezahle lieber mit der EC-Karte“, soll sie einmal beim Einkaufen mit den Pflegern gesagt haben. Gertrud Gaudig wird von ihren Kindern, Enkeln, Ur- und Ururenkeln liebevoll „Krümel“ genannt, aber eine niedliche Greisin ist sie ganz gewiss nicht. Mit ihren 103 Jahren ist sie munterer als die meisten heutigen Zeitgenossen.   

Die gebürtige Berlinerin feierte am Montag im DSG Pflegewohnstift in Babelsberg ihren Geburtstag. Bürgermeister Burkhard Exner (SPD) überbrachte ihr Schokolade und eine Glückwunschkarte mit der Potsdamer Skyline, die sie sogleich lächelnd kommentierte: „In Zehlendorf war immerhin ein 50 Euro-Schein drin.“ Gaudig gefällt die Ruhe in Potsdam nicht so recht, ihr Zimmer hat sie mit Andenken aus Berlin ausstaffiert. Zwei Weltkriege, vier Systemwechsel und auch die meisten ihrer Kinder hat die 103-Jährige mittlerweile überlebt. 
 

Nie geraucht, kaum Alkohol

Was ist ihr Geheimnis? Gaudig hat nie geraucht, nur zu ihren Geburtstagen dem Eierlikör gefrönt und auch nach Renteneintritt noch gearbeitet. Der eigentliche Grund für ihr langes Leben aber sind vielleicht die Überraschungen, die dieses für sie bereit hielt: eine Beziehung, mit der sie Gesetze bricht, Fluchtgeschichten mit gutem Ausgang und ihre vier Kinder und vier Enkelkinder, die für sie bis heute wichtige Ansprechpersonen geblieben sind.

Gertrud Gaudig wird am 9. Dezember 1916 in der Berliner Kurfürstenstraße geboren. Ihre Eltern haben nicht viel Geld. Die zwei, drei Messinggroschen Taschengeld muss sie schnell ausgeben, sonst sind sie in der Weimarer Republik schon entwertet. Um sich nicht nur einmal im Monat Süßigkeiten leisten zu können, beginnt sie mit 21 Jahren in einer Konditorei zu arbeiten. Dort gießt ihr die Chefin in der Pause den Kaffee aus der Tasse aus: „Nimm lieber Schlagsahne, das ist gesünder.“ Das gefällt ihr.

Gaudig lernt bei ihrer Ausbildung in Hoppegarten, wie man Herrenmützen näht, arbeitet eine Zeit lang als Verkäuferin und kommt schließlich zum Lampenhersteller Osram nach Zehlendorf. Dort wohnt sie zur Untermiete bei einer Berliner Familie und lernt ihren späteren Mann kennen. Der Postbeamte ist schon in seinen 40ern und lädt sie ins Plaza ein, damals eines der bekanntesten Varieté-Theater Berlins. 

Heirat in der Weimarer Republik

Dem Vermieter gefällt das nicht. Er macht das Paar auf den Kuppelparagraphen aufmerksam: In der Weimarer Republik ist es verboten, dass eine junge Frau mit einem Mann unverheiratet zusammen wohnt. Die beiden müssen also heiraten. Mit 24 bekommt Gertrud Gaudig ihr erstes Kind, eine Tochter.

„Mein Mann war sehr eigen, er hat auf dem Fußboden immer einen Stern gebohnert“, beschreibt sie eine seiner Macken. Doch bald muss ihr Mann in den Krieg ziehen. Sie selbst versteckt sich mit den Kindern erst im Luftschutzbunker, wird dann mit dem Zug nach Ostpreußen gebracht, dann weiter nach Pommern. Schon bald steht dort die rote Armee vor der Tür. 
„Wir wurden evakuiert und zurückgebracht“, erzählt Gaudig, „ich und meine Kinder hatten keinen Stempel, also ließen wir uns von einer anderen Familie mit über die Grenze schleusen.“ An einem Bahnhof in Polen versucht jemand, einer ihrer Töchter die Schuhe auszuziehen, um sie zu stehlen. Als der Dieb merkt, dass sie Deutsche ist, fragt er, ob sie Sachsenhausen kenne. Gaudig scheucht ihn weg. 

Zurück in Deutschland sieht sie ihren Mann wieder, er hat den Krieg überlebt. Als er 1974 stirbt, konzentriert sich Gaudig ganz auf ihre Kinder und Enkel. Die heiraten nach Frankreich und Thailand oder ziehen in den Westen des Landes – sind aber immer für sie da. In Gaudigs Zimmer stehen ihre Hochzeitsbilder. Bürgermeister Exner verabschiedet sie mit der Gewissheit: „Wir sehen uns zum Hundertvierten!“ 

Sophie Laass

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