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Die Zahl der Menschen, die sich durch negative Gefühle belastet fühlen, ist stark gestiegen.

© picture alliance/dpa

Folgen der Pandemie: Monatelange Wartezeiten bei Psychologen

Lustlosigkeit, Nervosität, Essstörungen: Corona sorgt auch in Potsdam für vermehrten Therapiebedarf.

Von Carsten Holm

Potsdam - Wer in völliger Verzweiflung nicht mehr weiter weiß, findet in der psychiatrischen Notfallambulanz des Bergmann-Klinikums in der Aue schnell Hilfe (siehe oben). Wer aber gerade in Corona-Zeiten Hilfe durch längere Therapien benötigt, braucht viel Geduld. Das Psychologen- und Ärzteteam der Klinik fragt Potsdamer bei der Aufnahme und am Krisentelefon routinemäßig, ob sie bereits bei einem der rund 95 niedergelassenen Psychotherapeuten in der Stadt vorstellig geworden sind. Die Antworten lautet oft: Ja, aber es gab monatelang keinen Termin.

Die Potsdamer Diplom-Psychologin Dany Grimm hat in ihrer Praxis immer wieder Patientinnen und Patienten vertrösten müssen, weil die Wartezeit auf einen Therapieplatz zwischen vier und zwölf Wochen betrug. „Während der Pandemie riefen etliche junge Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren an, die unter Essstörungen litten“, sagte sie den PNN am Montag auf Anfrage, „diese Erkrankungen sind, ob sie in Richtung Bulimie verlaufen oder sich in dem Verlangen nach zu viel Essen ausdrücken, Strategien zur Regulierung von Emotionen.“

Nachfrage während der Pandemie stark gestiegen

Wie auch ihre Potsdamer Kollegin Claudia Huhmann hat Grimm keine Kassenzulassung, mitunter, sagt Huhmann, „ist bei mir auch ganz schnell ein Platz frei“. Bei der staatlich approbierten Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin stieg die Nachfrage in der Corona-Zeit um rund 40 Prozent, viele Dutzend Anrufer musste sie im vergangenen Jahr abweisen, weil sie nur Selbstzahler behandelt.

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Wie Menschen, die durch psychische Erkrankungen ohnehin belastet sind, durch die Corona-Pandemie zusätzlich leiden, ist vielfach belegt. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hatte schon für den Zeitraum von Januar bis August 2020 Daten veröffentlicht, die alarmierend waren: Brandenburger:innen, die sich aus psychischen Gründen krankschreiben ließen, fehlten deutlich länger bei der Arbeit als ein Jahr zuvor. Eine psychisch erkrankte Person fehlte im Jahr 2020 durchschnittlich 27,7 Tage am Arbeitsplatz. Dieser Wert stieg im Vergleich zum selben Zeitraum 2019 um rund 13 Prozent an.

Im September 2021 publizierte das WIdO das Ergebnis des „Fehlzeitenreports“, dem eine bundesweite Befragung von 2500 Beschäftigten im Frühjahr 2021 zugrunde liegt. Der Anteil der Erwerbstätigen, die über psychosomatische Beschwerden klagen oder sich durch negative Gefühle belastet fühlen, stieg von etwa 69 Prozent Anfang 2020 auf 88 Prozent. Die Befragten nannten Lustlosigkeit, Nervosität und Niedergeschlagenheit als Beeinträchtigungen. Konzentrationsprobleme nahmen danach um zehn Prozent, Schlafstörungen um sieben Prozent zu, wie die AOK Nordost mitteilte.

Mühsame Suche nach Therapieplatz

Die Techniker Krankenkasse (TK) hatte für 2020 in Brandenburg durchschnittlich 19,1 Krankentage unter ihren 315 000 Versicherten bilanziert. In der Stadt Potsdam waren es durchschnittlich 15,7 Tage, die meisten entfielen auf psychische Erkrankungen. Von Januar bis Oktober 2021 betrug die durchschnittliche Zahl der Krankentage pro Versichertenjahr rechnerisch 17,4. Für Potsdam sind die Daten noch nicht ausgewertet.

Auch der rbb zeigte in seiner Reihe „Super.Markt“ auf, wie mühsam es ist, einen Therapieplatz zu bekommen. Während niedergelassene Psychotherapeuten im Januar 2020 durchschnittlich 4,9 Anfragen pro Woche erhielten, stieg diese Zahl im Januar 2021 auf 6,9. Der rbb berichtete zudem von 100 000 Unterzeichnern einer Online-Petition, die eine Verbesserung der Lage forderten. Der Psychotherapeut Dietrich Munz, Präsident des Vorstands der Psychotherapeutenkammer, listete in der Sendung die psychischen Erkrankungen auf, die in der Pandemie vermehrt zu beobachten waren: eine Zunahme von Depressionen und Angsterkrankungen bei Erwachsenen, Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen.

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Gerhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, bestätigte den PNN auf Anfrage, dass die Nachfrage nach psychotherapeutischen Behandlungen im vergangenen Jahr landauf, landab um 40 Prozent gestiegen sei. „Das drückt bei den Kolleginnen und Kollegen“, sagt Hentschel, der neben seinem Funktionärsjob in einer psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis im westfälischen Münster arbeitet.

Die Nachfrage sei durch die Pandemie gestiegen, sagt Hentschel. Ohnehin seien die Wartezeiten bei niedergelassenen Psychotherapeuten aber lang, weil die Sitzungen 50 Minuten dauerten und systemische Therapien bis zu 48 Stunden, Verhaltenstherapien bis zu 80 Stunden, tiefenpsychologisch fundierte Therapien bis zu 100 Stunden und Psychoanalysen bis zu 300 Stunden brauchten: „Da dauert es entsprechend lange, bis Plätze frei werden.“ Helfen könnten Patienten aber auch Selbsthilfegruppen oder pharmakologische Mittel. 

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