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Bittere Flucht. In ihrem Buch „Verschwommen“ berichtet Rita Bergemann von ihren Erlebnissen nach dem Mauerbau. Sie war im Potsdamer Ortsteil Sacrow groß geworden, direkt an der innerdeutschen Grenze. Erst in den 1990er-Jahren kehrte sie zurück in die Landeshauptstadt.

© Andreas Klaer

Flucht ohne Freiheit: Rita Bergemann flüchtete in den Westen - und kam zurück nach Potsdam

Rita Bergemann flüchtete einst von Sacrow aus in den Westen. Heute lebt sie wieder in Potsdam und liest am Wochenende aus ihrem Buch „Verschwommen“.

Potsdam - In der Wohnung von Rita Bergemann müssen die Zimmertüren immer offen stehen. Es ist eine Art Relikt aus DDR-Zeiten. Als junge Frau pendelte sie für ihre Ausbildung täglich von Potsdam nach West-Berlin an die Charité und musste dabei auf Hin- und Rückweg Kontrollen über sich ergehen lassen. „Das Eingeschlossensein ist für mich bis heute mit Panikattacken verbunden“, schreibt sie in ihrem Buch „Verschwommen“. Denn da die Mutter oft schöne Kleidung für ihre Mädchen nähte, vermuteten die Volkspolizisten Westmode und hielten sie stundenlang in dem kleinen Kontrollhäuschen fest.

Rita Bergemann, Jahrgang 1940, musste in ihrem Leben zwei Mal die Heimat verlassen: Im Alter von fünf Jahren flüchtete sie mit der Familie vor der Roten Armee aus Schlesien nach Potsdam. Als die Repressalien dort nach dem Zweiten Weltkrieg zunahmen, flüchtete sie gemeinsam mit ihrem Jugendfreund in den Westen. Die Flucht aus der Heimat, das schwere Leben als Vertriebene in Potsdam, der Neuanfang im Westen – Rita Bergemann hat sich eines Tages an den Tisch gesetzt und alles aufgeschrieben. Entstanden ist eine spannende, rührende Lebensgeschichte, die zum Teil auch sehr traurig und schockierend ist. „Ich habe es für meinen Sohn Markus geschrieben“, sagt sie. Ihn bekam sie im Alter von 23 Jahren, fünf Jahre später starb ihr gleichaltriger Mann, mit dem sie einst flüchtete. Für Markus wollte sie etwas schaffen, das ihn an den Vater, den er kaum kennenlernte, erinnert. Das Buch ist untermalt mit politischen Hintergrundinformationen der Journalistin Angelika Basdorf – eine Mischung aus persönlichen Erinnerungen und geschichtlicher Einordnung.

Mitte der 90er-Jahre habe sie mit dem Schreiben begonnen, sagt Rita Bergemann. Lange habe sie all die Erinnerungen und Enttäuschungen verdrängt. „Im Grunde genommen war es eine Art Aufarbeitung“, sagt die heute 76-Jährige.

Den Vater ihres Sohnes, Michael Reck, lernte sie auf dem Gymnasium in Potsdam kennen. Bei den beiden war es Liebe auf den ersten Blick, so beschreibt sie es in ihren Erinnerungen. „In Sacrow haben wir unsere Jugend verbracht, sind mit Booten auf dem Wasser gefahren, haben Spaziergänge im Schlossgarten unternommen oder die Heilandskirche besucht“, erzählt sie. Michaels Vater war Besitzer einer Ingenieursfirma für Heizung und Sanitärtechnik – als „Kapitalistensohn“ hatte er keine Aussicht auf ein Ingenieursstudium im Osten. Daher drängte sein Vater, der sich wünschte, dass Michael den Betrieb übernehmen würde, den Sohn zur Flucht in den Westen.

„Für uns stand fest, dass wir zusammen bleiben“, sagt Rita Bergemann. Der Mauerbau begann, als die beiden gerade Urlaub auf einem Zeltplatz in Trassenheide machten. Auf Wunsch von Michaels Vater kamen sie frühzeitig zurück, das Verlassen der Stadt mit der S-Bahn war schon nicht mehr möglich. Sie entschlossen sich zur Flucht von Sacrow aus. Zu der Halbinsel Meedehorn hatte man zu dieser Zeit eigentlich keinen Zugang mehr, die Gegend war längst Sperrgebiet. Nur Besitzer von Wochenendhäusern besaßen den nötigen Passierschein. Und Michaels Eltern besaßen ein solches Haus.

Ihr Fluchtversuch, gut zwei Wochen nach Beginn des Mauerbaus, war gewagt: Sie schwammen an der schmalsten Havelstelle hinüber ans rettende Ufer. Sie hofften, dass man auf dem 300 Meter langen Weg von Sacrow nach Moorlake am wenigsten einen Fluchtversuch vermutete – war es doch so offensichtlich und dreist – und sie hatten Glück. Ein Kontrollboot drehte kurz vor ihnen wieder ab. „Noch heute träume ich davon, ich höre die Stimmen der Männer im Boot“, sagt Rita Bergemann.

Doch das neue Freiheitsgefühl, das sich das junge Liebespaar erhofft hatte, blieb lange aus. Zunächst hatten sie in der ihnen zugewiesenen Stadt Köln mit etlichen Alltagshürden zu kämpfen – beispielsweise bekam Rita ohne Zeugnisbeglaubigung keine Anstellung und als noch unverheiratetes Paar wurde ihnen keine gemeinsame Wohnung zugeteilt. Doch vor allem vermissten sie ihre Heimat und die Familie. „Michael war ein froher Junge, witzig und aufgeschlossen. All das ging verloren im Westen“, erzählt Rita Bergemann heute.

Immer wieder tröstete sie ihren Mann, eines Tages könnten sie nach Potsdam zurückkehren. Auch Michael war zunächst noch zuversichtlich. „Rita, eins verspreche ich dir: Wenn die Mauer eines Tages fällt, werden wir mit die Ersten sein, die über diese Brücke nach Potsdam gehen“, so zitiert sie ihn, als sie kurz nach der Geburt des Kindes zu Besuch in Berlin sind und sehnsüchtig ans andere Havelufer blicken. So beginnt dann auch das Buch: Rita Bergemann steht wirklich auf der endlich wieder passierbaren Glienicker Brücke und wendet sich in Gedanken an Michael, beteuert, wie sehr sie es bedauert, dass er sein Versprechen nicht einlösen kann. Denn der junge Vater wuchs behütet und in guter wirtschaftlicher Lage auf, die Entbehrungen nach der Flucht verkraftete er nicht. Am schlimmsten traf ihn der Tod der zurückgelassenen Mutter. Sie wurde nach dem Fortgang des geliebten Sohnes schwer krank und starb. Michael Reck erkrankte bald an einem schweren Magenleiden, im jungen Alter von 28 Jahren verstarb auch er. „Es gab nicht nur die direkt ermordeten Mauertoten“, sagt Rita Bergemann. „Michael war ein psychisches Maueropfer.“

Der Titel hat zwei Hintergedanken: Die beiden haben die Flucht nicht nur schwimmend begangen, sondern waren zeitlebens von Zweifeln geprägt, ob es die richtige Entscheidung war – oder ob sie sich „verschwommen“ hatten. „Es war eine unschuldige, wunderbare Jugendliebe“, seufzt Rita Bergemann. „Wenn die Mauer nicht gekommen wäre, wir wären nie aus Potsdam weggegangen.“

Nach dem Tod von Michael Reck heiratete Rita Bergemann erneut und wohnte in Köln und Bopphardt in Rheinland-Pfalz, wo sie mehr als 20 Jahre lang als selbstständige Therapeutin für Säuglinge und Kleinkinder arbeitete. Nach der Veröffentlichung des Buches reiste sie wieder öfter nach Potsdam. Das alte Heimatgefühl übermannte sie und so zog sie vor zwei Jahren mit ihrem jetzigen Ehemann Günter, der auch das Cover des Buches als Aquarell gezeichnet hat, in eine gemütliche Wohnung in die Nauener Vorstadt. Gleich nach ihrer Rückkehr trat Bergemann dem Förderverein Ars Sacrow bei. In der Kirche wird sie am Samstag gemeinsam mit Angelika Basdorf aus „Verschwommen“ lesen.

Die Veranstaltung wird von Ars Sacrow e.V. und der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur präsentiert. Beginn ist am Samstag, dem 24. September, um 18.30 Uhr im Spiegelsaal des Schlosses Sacrow, der Eintritt ist frei.

Angelika Basdorf Verschwommen – Rita Bergemann auf dem Weg in den Westen. Erschienen im Verlag Verlagsanstalt Handwerk/Verlagsanstalt Handwerk G, Düsseldorf, 247 Seiten, 14,80 Euro.

Anne-Kathrin Fischer

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