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Dahinter der Verhandlungssaal. Der unter hohen Sicherheitsvorkehrungen stattfindende Prozess gegen den mutmaßlichen Kindermörder Silvio S. findet am Potsdamer Landgericht im Justizzentrum an der Jägerallee statt. In den Saal 8 kommen Besucher und Journalisten nur über den Hinterhof des Gerichts, jeder Gast wird nach Waffen und gefährlichen Gegenständen durchsucht.

© AFP

Fälle Elias und Mohamed: Prozessauftakt in Potsdam: Der Tag, als ihr Sohn verschwand

UPDATE Die Mütter von Elias und Mohamed treffen vor dem Potsdamer Landgericht auf den mutmaßlichen Mörder ihrer Kinder. Weitere Zeugen schildern, in welchen Verhältnissen der getötete Elias lebte.

Potsdam - Anita S. trägt Schwarz. Die 26-jährige Übersetzerin stützt sich auf eine Krücke. Ihr Blick meidet den Mann, der an der Anklagebank sitzt. Die Mutter des getöteten Elias aus dem Potsdamer Stadtteil Schlaatz war die erste Zeugin im Prozess gegen den mutmaßlichen Kindermörder Silvio S. Das Verfahren, das bundesweit Aufsehen erregt, hat am Dienstag im Saal 8 des Potsdamer Landgerichts begonnen.

Anita S. ist Zeugin. Sie erzählt über ihren Sohn Elias. Und wie sie den 8. Juli 2015 erlebte, als ihr damals sechs Jahre altes Kind verschwand. In der Öffentlichkeit hat sie bisher noch nie darüber gesprochen. Kein anderes Geräusch ist im Saal zu hören. Nur ihre leise Stimme.

Im Sommer 2014 war sie nach Potsdam gezogen. Sie wollte, dass Elias dort zur Schule geht. Zwei Wochen vor seiner Entführung war sie mit ihrem Lebensgefährten in eine neue, größere Wohnung im Plattenbauviertel Schlaatz gezogen, nur zwei Querstraßen, fünf Minuten von der alten entfernt. Die Kisten waren noch nicht ausgepackt, die Möbel nicht komplett.

Elias' Mutter war sehr vorsichtig

Elias war bereits mit fünf Jahren eingeschult worden. In der ersten Klasse fuhr die Mutter ihn jeden Tag zur Schule und holte ihn wieder ab. Sie wollte nicht, dass er schon allein zur Schule geht. Auch sonst war die Mutter vorsichtig. Wenn sie Elias allein in der Wohnung ließ, um einkaufen zu gehen, sollte er selbst ihr nicht die Tür öffnen, erklärt Anita S. dem Richter. Sie habe Elias gesagt, es könne ihn jemand austricksen, um in die Wohnung zu kommen und ihm wehtun.

Der 8. Juli 2015 verlief nach ihrer Aussage wie immer. Sie brachte Elias zur Schule, fuhr nach Hause, putzte die Wohnung, suchte im Internet nach Jobs. Etwa gegen 16 Uhr holte sie ihn wieder aus dem Hort ab. Dann ging sie mit ihrem Lebenspartner kurz einkaufen, Elias blieb allein zu Hause und aß einen Nussjoghurt. Danach ging Elias auf den Hof spielen – es sei eines der ersten Male gewesen, dass er in der neuen Umgebung allein spielen durfte. Aber er sollte, so hatte es ihm die Mutter erklärt, immer im Blickfeld bleiben. Dazu hatte Anita S. ihrem Sohn beigebracht, dass er nie mit Fremden mitlaufen dürfe, immer in ihrer Nähe bleiben müsse. Es gab feste Absprachen. Elias war offenbar „ein folgsamer Junge“, wie es der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter sagte.

Rückblende. Der 8. Juli 2015. Elias spielte im Hof. Alle 10 bis 15 Minuten schaute Anita S. aus der Parterrewohnung hinaus. Alles schien in Ordnung. „Als ich rausschaute, hat er im Sandkasten gehockt oder ist zwischen Sträuchern hin- und hergehopst“, sagte Anita S. dem Gericht. Gegen 18.45 sei sie dann – vor dem Abendessen – hinausgegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Sie rief und schaute nach ihm. Doch Elias war weg. Sie stürmte zu ihrem Lebenspartner, beide liefen sie den Block ab. Doch nichts. Ihr Partner telefonierte Freunde und Bekannte heran, die bei der Suche halfen. Um 19 Uhr, 11 Minuten und 47 Sekunden folgte der Notruf bei der Polizei.

Von der Polizei zunächst nicht ernstgenommen gefühlt

Die Polizei schickte Beamte vorbei, „die haben das erstmal aufgenommen“. Aber sie habe sich von der Polizei „am Anfang nicht so ernst genommen gefühlt“. Dann setzte die Polizei zwei Streifenwagen für die Suche ein, am Abend wurden es immer mehr Beamte, sogar Hubschrauber. „Ich war zuhause und habe gewartet“, sagte Anita S. vor Gericht. Zu diesem Zeitpunkt war Elias laut Anklage der Staatsanwaltschaft längst tot. Demnach soll Silvio S. den sechsjährigen Elias zwischen 17.30 und 18.45 Uhr entführt und nach einem Missbrauchsversuch erwürgt haben. Die Details in der Anklage sprechen dafür, dass die Tat sorgfältig geplant war. Unter anderem verwendet S. laut Staatsanwaltschaft eine Art Gesichtsmaske mit einem Metallring für den Mund. Solche Details hört Elias’ Mutter im Gerichtssaal nicht, gleich nach ihrer Aussage verlässt sie das Justizzentrum in der Jägerallee, wird von einem Auto abgeholt.

Auch die sichtlich von Trauer gezeichnete Mutter von Mohamed, Aldiana J., die die Anklage mit ihren Details anhört, geht eher. Sie sitzt neben ihren Anwälten, ein Dolmetscher übersetzt ihr simultan das Gesagte, mehrfach wirkt sie aufgewühlt. Die Bosnierin war mit Mohamed und seiner älteren Schwester in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland gekommen. Auf Veranlassung des Berliner Senats darf die zunächst nur geduldete Familie nun bleiben. Offiziell zu Wort kommt Mohameds Mutter am Dienstag noch nicht.

War Elias ein Junge, der einfach mit Fremden mitgeht?

Dafür befragte das Gericht weitere Zeugen aus dem Umfeld von Elias. Unter anderem spielt auch das Verhältnis der Mutter zu Elias eine Rolle und die Frage, ob er ein Junge war, der einfach mit Fremden mitgeht. Er soll vergleichsweise zurückhaltend gewesen sein, ängstlich, aber kontaktfreudig, offen, und doch immer vorsichtig, lebensfroh, wissbegierig, zugleich sensibel, aber auch zappelig, soweit dies Außenstehende beobachten können. Der Lebenspartner der Mutter hatte der Polizei nach Elias’ Verschwinden gesagt, der Junge hätte es wohl abgelehnt, mit Fremden mitzugehen. Vor Gericht sagte Florian A., er wisse nicht mehr, was er glauben soll. Zu viel habe er seit dem Verschwinden von Elias gehört.

Eine Freundin sagte über die Mutter, die nicht mehr am Schlaatz wohnt: Sie war konsequent, streng, aber auch liebevoll. Sie habe Grenzen gesetzt, „die ich manchmal nicht so gesetzt hätte“. Allerdings hätte sich Elias auch stets bei allen möglichen Dingen bei seiner Mutter rückversichert, ob er dieses und jenes machen dürfe, sagte die Freundin. Und weiter: „Ich glaube, er hätte sich eine Rückversicherung bei seiner Mutter geholt“, bevor er mit Fremden mitgegangen wäre. Sie hätten ein gutes Verhältnis gehabt. „Wenn er sich unsicher war, ist er zu seiner Mutter gegangen.“ Auch eine Therapeutin aus der Schule sagte, sie habe Elias als überaus folgsam, gehorsam erlebt. „Das hat mich fast erschreckt“, sagte sie. Fremde hätten Elias mit etwas ködern müssen, damit er mitgeht – weil er doch nie einfach tat, was nicht erlaubt war.

Therapeutin: „Wenn Kinder sehr behütet sind, haben sie eine andere Standhaftigkeit“

Aber wie war Elias? Es sind Streiflichter aus Erlebnissen der Zeugen mit Elias, immerhin Therapeuten, pädagogisches Personal, Leute, die sich mit Kindern auskennen. „Wenn Kinder sehr behütet sind, haben sie eine andere Standhaftigkeit“, sagt die Therapeutin. Diese Standhaftigkeit habe sie bei Elias nicht beobachtet. Eine Horterzieherin berichtet, die Begrüßung, als die Mutter ihren Sohn im Hort abholte, sei nie überschwänglich gewesen wie bei anderen Kindern, eher zurückhaltend. Bei der Polizei hatte sie gesagt: „Es war immer husch, husch, mach hin. Er wurde nie liebevoll in den Arm genommen.“

Dennoch beschreibt die Horterzieherin Elias als aufgewecktes Kerlchen, das zu früh in die Schule kam, dem noch ein Jahr in der Kita gut getan hätte. Er spielte gern, baute herum. Und wiederfuhr ihm Ungerechtes, „dann hat man ihn gehört“. Er weinte und schrie, ließ sich nicht beruhigen. Beim Trösten half der Erzieherin nur eins: ein Schokoladenkäfer – und schlagartig hörte er auf zu weinen. „Er hat die Aufmerksamkeit bekommen, die er sich durch solche Sachen eingefordert hat“, sagte sie. An die letzte Begegnung mit Elias kann sich die Erzieherin noch genau erinnern. Es war am Tag, als Elias entführt wurde. Elias malte im Hort, es waren Zeichentrickfiguren, und zeigte ihr das Bild. Dann ging er spielen.

Verstehen, was damals passiert ist

Bis 17.30 Uhr dauerte die Verhandlung. Vernommen wurden auch Zeugen, die Elias kurz vor seinem Verschwinden gesehen haben wollen. Unter den 30 Zuschauern waren Potsdamer, die nach dem 8. Juli 2015 im Stadtteil Schlaatz bei der wochenlangen Suche nach dem Jungen geholfen haben. Ihr Motiv an diesem Tag: Verstehen, was damals passierte.

Bis zum 26. Juli sind weitere elf Verhandlungstage angesetzt. Am kommenden Montag sollen Zeugen vor allem aus dem Umfeld des 33-jährigen Angeklagten gehört werden. Die letzte Meldung des Tages: Laut Gericht will eine Tante von Silvio S. doch nicht aussagen und von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.

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