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Expertenbericht zum Potsdamer Bergmann-Klinikum: Verheerendes Urteil nach Corona-Ausbruch

Ein Klima der Angst, Vernachlässigung von Hygiene und Pflege, Fehleinschätzungen zur Virusgefahr, kein Plan für den Ernstfall: Kommission legt Missstände im kommunalen Krankenhaus offen.

Eng beschriebene 74 Seiten umfasst der Abschlussbericht der Expertenkommission zum Corona-Ausbruch am Potsdamer „Ernst von Bergmann“-Klinikum im Frühjahr 2020. Mit nahezu jeder Zeile wird klarer, wie groß die Missstände in dem 1000-Betten-Krankenhaus mit seinen rund 3500 Beschäftigten zum Zeitpunkt des Ausbruchs waren. Dabei geht der Umfang der attestierten und belegten Mängel, Fehlentscheidungen und Versäumnisse deutlich über das hinaus, was bisher bekannt ist. Die Expertenkommission hat sie in Detailschärfe schonungslos aufgeführt und trifft ein verheerendes Urteil. Dabei geht es um Verantwortung der damaligen Klinikum-Geschäftsführung, aber auch der Stadt als Gesellschafter, des Aufsichtsrats und des Gesundheitsamts.

Am Montagnachmittag hatte die 14-köpfige Kommission unter Leitung der ehemaligen brandenburgischen Linke-Gesundheitsministerin Anita Tack und des Virologen Frank T. Hufert den Bericht dem Auftraggeber vorgestellt – dem Aufsichtsrat des kommunalen Klinikums. Dieser entschied nach vierstündiger Debatte, dass der Abschlussbericht komplett veröffentlicht werden darf; jetzt ist er bereits digital abrufbar (siehe unten zum Download). Dies war der erklärte Wille des Gesellschaftervertreters, Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD). Am Mittwoch (20.1.) soll erstmals der Hauptausschuss der Stadtverordneten dazu beraten.

Die neue Klinikum-Geschäftsführung muss sich dem scharfen Urteil der Expertenkommission stellen. Der Bericht gebe "wertvolle Empfehlungen" für die Weiterentwicklung des Klinikums, so Bergmann-Chef Hans-Ulrich Schmidt am Dienstag. "Er legt den Finger in die Wunde und hilft uns, nach vorn zu kommen". Es werde ein "Veränderungsprozess entwickelt", der die "Empfehlungen im Blick hat", versprach der Ärztliche Direktor Christian Kieser.  

Wie konnte es im Klinikum soweit kommen?

Bei dem heftigen Corona-Ausbruch im März und April 2020 waren insgesamt rund 350 Patienten und Mitarbeitende des Klinikums mit dem Coronavirus infiziert. 47 Patienten starben von Ende Januar bis Ende April 2020 im Bergmann mit oder an Corona. 44 von ihnen waren wegen anderer Erkrankungen in das Krankenhaus eingeliefert worden.
Die Potsdamer Staatsanwaltschaft hat im Juni 2020 Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung sowie der fahrlässigen Körperverletzung gegen die ehemaligen Geschäftsführer Steffen Grebner und Dorothea Fischer sowie gegen den damaligen Ärztlichen Direktor und Infektiologie-Chefarzt Thomas Weinke, die damalige Krankenhaushygienikerin sowie die Chefärztin der Geriatrie aufgenommen. Die Ermittlungen dauern an.


PNN-Recherchen zu dem schweren Ausbruch hatten bereits damals Versäumnisse, Fehleinschätzungen und Missstände in der Vorbereitung auf die Corona-Pandemie in dem Krankenhaus sowie im Umgang mit dem Ausbruch aufgedeckt. Letztlich räumte auch der damalige Vorstand der Klinikum-Geschäftsführung Steffen Grebner ein, den Ausbruch zu spät erkannt und deshalb nicht adäquat reagiert zu haben.

Doch wie konnte es dazu kommen, dass im Bergmann-Klinikum so viele Patienten und Mitarbeitende mit dem Coronavirus infiziert wurden, zahlreiche Menschen in der Folge starben? Das sollte die Kommission herausfinden.
Es gebe, so Kommissionschefin Tack am Dienstag bei einer Pressekonferenz, nicht eine einzelne Ursache dafür. Vielmehr sei es ein Geflecht aus Schwächen bei der Hygiene und den baulichen Anlagen, der Rolle der Geschäftsführung und der Nicht-Wahrnehmung von Verantwortlichkeiten sowie dem Kontroll- und Meldesystem. In den mehr als sechs Monaten, in denen die Kommission ehrenamtlich untersuchte, habe sie auch persönliche Verantwortlichkeiten ausmachen können, so Tack: „Es gibt ja die Geschäftsführung und verantwortliche Funktionsträger – und es gibt sie dafür, dass sie Verantwortung übernehmen.“ Wie nachlässig Hygiene und Arbeitsmedizin im Bergmann gehandhabt worden seien, habe sie „sehr betroffen gemacht“, sagte die Kommissionschefin. 

Warum wurde das Risiko eines Ausbruchs nicht gesehen?

Virologe Hufert sagte, ihn habe sehr gewundert, dass Klinikum-Verantwortliche und Fachleute wie der Chefarzt der Infektiologie das Risiko einer nosokomialen Infektion – also einer Verbreitung des hochansteckenden Virus im Krankenhaus – nicht gesehen hätten. Es gebe diese Gefahr ja beispielsweise auch bei multiresistenten Keimen.

Zudem sei bereits bekannt und wissenschaftlich belegt gewesen, schreiben die Experten in ihrem Bericht, dass auch Infizierte ohne Symptome das Coronavirus weitergeben können und dass eine Übertragung durch die Luft möglich ist. Dieses Wissen sei jedoch im Bergmann-Klinikum "nicht adäquat bewertet" worden. Die Hygiene des Klinikums sei zudem „so schwach aufgestellt“ gewesen, dass sie die Lage „nicht hätte managen können, das war Mission Impossible“, so Hufert, der das Institut für Mikrobiologie und Virologie der Medizinischen Hochschule Brandenburg leitet.

Mangelhafte Vorbereitung auf die Pandemie

Fatale Folgen für viele Patienten hatte die mangelhafte Vorbereitung des zweitgrößten Krankenhauses des Landes Brandenburg auf die Corona-Pandemie. Ein einheitlicher Krisen- und Pandemieplan sei im Klinikum "bis heute nicht vorhanden“, heißt es im Bericht, der vom 21. Dezember 2020 datiert. Es gebe seit dem 6. März 2020 zwar eine Checkliste, die auch im Juni, nach dem Ausbruch, noch einmal auftauchte – doch keinen Plan. Und das, obwohl das Landesgesundheitsministerium am 29. Januar 2020 festgelegt hatte, dass alle Gesundheitsämter die Krankenhäuser auffordern sollen, „ihre Pandemiepläne vorzulegen und zu aktualisieren“. Das Klinikum tat dies nicht – blieb jedoch, so kritisiert der Abschlussbericht der Experten, dabei vom Potsdamer Gesundheitsamt unbehelligt. 

Wegen der mangelnden Planung sei "unklar und widersprüchlich" gewesen, wer im Krisenfall die Führung übernehme: Es ließen sich „keine eindeutigen Rollen und Verantwortlichkeiten“ erkennen, so der Bericht, es habe auch keine Notfallübungen gegeben.  Das führte, als sich das Coronavirus bei dem Ausbruch vor allem auf den beiden Stationen der Geriatrie ausbreitete, zu chaotischen Zuständen.

Bestätigt hat die Kommission auch, dass es „kein etabliertes Meldesystem“ zur Früherkennung von Infektionen im Klinikum gegeben hat. Ein schwerer Organisationsfehler, denn wenn Infektionen nicht ordnungsgemäß erfasst und gemeldet werden, können sie nicht wie vorgeschrieben schnell durch die Krankenhaushygiene und das Gesundheitsamt eingedämmt werden.

Beim Ausbruch hat es laut Bericht keine Aufzeichnung der konkreten Fälle, eine so genannte Linelist, gegeben. Bis heute seien die vorliegenden Listen zum Ausbruchsgeschehen „uneinheitlich und widersprüchlich“, eine epidemiologische Analyse der ersten Fälle sei damit nicht möglich. Die mangelnde Dokumentation habe das Erkennen des Ausbruchs verzögert „und ihn damit begünstigt“, stellt der Bericht fest.

Keine festen Strukturen für Ausbruchsmanagement

Das Dokumentations-Chaos zeige auch, dass es im Klinikum „keine etablierten Strukturen für das Management von Ausbrüchen gab“. Und das, obwohl es in den Jahren 2019 und 2020 bereits nosokomiale Ausbrüche mit anderen Erregern gegeben hatte – bei denen ebenso das Ausbruchsmanagement fehlte.

Als das Gesundheitsamt als Aufsichtsbehörde damals einschritt und die vorgegebenen Ausbruchsmeldungen einforderte, gab es Konflikte mit dem Klinikum. Dabei trat nicht etwa wie normalerweise üblich die Krankenhaushygiene mit dem Gesundheitsamt in Kontakt, so der Bericht, sondern Geschäftsführer Grebner. Dabei sei „der geringe Sachverstand der Geschäftsführung“ in Bezug auf die Infektionen aufgefallen.

Das Gesundheitsamt schaltete in einem Fall sogar die übergeordnete Aufsichtsbehörde, das Landesamt für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit (LAVG), ein – doch auch das hatte wenig Folgen. Das Klinikum verweigerte sich weiterhin den Meldevorgaben, die Stadt als Gesellschafter und der Aufsichtsrat blieben laut Bericht jedoch untätig und verfolgten dies nicht weiter. 

Gesundheitsamt in der Kritik

Die Expertenkommission kommt mehrfach zu dem Schluss, dass das Potsdamer Gesundheitsamt vor allem in der Vergangenheit zu schwach aufgestellt war und seiner „Aufsichtsverpflichtung nicht ausreichend nachgekommen“ sei - besonders, was die desolaten Zustände in der Hygiene angehe. Bis 2016 habe es "nur unstrukturierte und unregelmäßige Begehungen" des Amts im Klinikum gegeben, an der die Geschäftsführung lange nicht teilgenommen habe. Die Strategie von Geschäftsführer Grebner habe darin bestanden, das Gesundheitsamt „aus dem Betrieb des Klinikums so weit wie möglich herauszuhalten“, heißt es an anderer Stelle. Das tat er auch bei der Vorbereitung auf die Pandemie - explizit entgegen der Empfehlung des Robert Koch-Instituts.

Das Klinikum während des Aufnahmestopps im April 2020.
Das Klinikum während des Aufnahmestopps im April 2020.

© Ottmar Winter

In einer entscheidenden Frage sprechen die Experten das Gesundheitsamt unter Führung von Kristina Böhm jedoch von Versäumnissen frei. Im Zusammenhang mit dem Ausbruch hatte es immer wieder Vermutungen gegeben, durch die Meldungen von positiven Corona-Tests, die Ende März verstärkt aus den Laboren im Gesundheitsamt eingingen, hätte das Amt einen Ausbruch erkennen können und einschreiten müssen. Dies sieht die Kommission nicht so: Eine Labormeldung allein lasse keine Rückschlüsse auf die Zusammenhänge der Infektionen zu – und auch nicht darauf, ob es sich um nosokomiale, also im Krankenhaus erworbene, Ansteckungen handele. Insofern sei das Gesundheitsamt auf die gesetzlich vorgeschriebene Meldung eines Ausbruchs durch das Krankenhaus angewiesen.

Im Falle des Bergmann-Klinikums kam diese bekanntlich fünf Tage zu spät und ging erst am 29. März ein – telefonisch. Davor habe es bereits zehn Tage lang eine „auffällige Häufung von Labormeldungen“ gegeben, die bei den Verantwortlichen für Hygiene und Infektionsschutz im Klinikum hätte Fragen aufwerfen müssen, so der Kommissionsbericht.

Geschäftsführung dominierte den Krisenstab

Das geschah nicht - weil die Krankenhaushygiene gar nicht im Krisenstab vertreten war und auch bei der Krisen- und Pandemieplanung "keine Rolle spielte", entgegen der RKI-Empfehlung. Der Krisenstab wurde stattdessen "zu Beginn durch die Geschäftsführung dominiert" - wie so vieles andere im Klinikum. Auch die Diagnostik, die später Tausende Corona-Tests auswerten muss, fehlte im Krisenstab. "Vorhandenes Wissen" wurde somit nicht genutzt, der Krisenstab neigte daher zu "einseitigen, uninformierten Entscheidungen".

Die Verantwortlichen machten vor und während des Ausbruchs zahlreiche Fehler. Covid-Patienten mussten mehrfach im Klinikum umziehen, weil die Planung für die Covid-Bereiche ungenügend war und nicht den RKI-Vorgaben entsprach, so der Bericht. Betten standen teilweise nur 30 Zentimeter voneinander entfernt, Pflegepersonal musste lange Wege zu Entsorgungs- und unreinen Arbeitsräumen zurücklegen - das begünstigte die Ausbreitung des Virus, ebenso die vielen Umzüge: Bei der Verlegung der Covid-Infizierten von Gebäude E zu den Bauten H und LL wurden die Patienten laut Bericht mehr als 200 Meter durchs Klinikum geschoben - durch die Gebäude A (Haupteingang), B (Radiologie) und L und N. Dort seien die Flure weniger als 2,40 Meter breit. "Mit großer Wahrscheinlichkeit" seien die Umzüge "Mitursache" für den Ausbruch, so die Experten. Dies hatte auch schon das Interventionsteam des RKI in seinem Bericht festgestellt.

Superspreader-Risiko durch Abstrichstelle

Das erste Covid-Konzept des Klinikums wird nicht etwa durch den Krisenstab mit Experten erarbeitet, sondern Ende Februar 2020 von "einem kleinen Kreis" um Chef Grebner, so der Bericht. Als es am 3. März vorgestellt wird, gibt es keine Diskussion und keinen Widerspruch - obwohl die Abstrichstelle im Innenbereich des Haupteingangs angesiedelt war. Damit sei das Klinikum ein  Risiko für einen "Ausbruch durch einen infizierten Superspreader" eingegangen, der dorthin zum Test kommt - inmitten von Publikumsverkehr. Dass es Superspreader gebe, sei Medizinern seit dem Sars-Cov-1-Ausbruch im Jahr 2002 bekannt, so die Kommission. Doch auch der anwesende Infektiologe habe auf die gefährliche Platzierung der Abstrichstelle nicht aufmerksam gemacht. Eine Erklärung könnte, so der Bericht, "das etablierte dominante Führungsmuster sein, das Widerspruch durch Fachexperten nicht erlaubte".

Auch das Corona-Schutzkonzept habe das Klinikum "nicht konsequent umgesetzt". Covid-19-Bereiche waren nicht ausreichend abgetrennt, und Servicemitarbeitende kannten die Regeln nicht, weil sie "keinen Zugang zu den Informationssystemen haben", heißt es im Bericht. Das Servicepersonal sei mitunter auch "angewiesen worden, die Regeln nicht einzuhalten". 

Im Frühjahr kam es in Klinikum "Ernst von Bergmann" in Potsdam zu einem Corona-Ausbruch.
Im Frühjahr kam es in Klinikum "Ernst von Bergmann" in Potsdam zu einem Corona-Ausbruch.

© dpa

Als einen "schweren logistischen Fehler" führt der Bericht auf, dass die Geschäftsführung nicht rechtzeitig dafür sorgte, dass die hauseigene Diagnostik Corona-Tests durchführen kann. Am 23. Januar 2020 hatte Charité-Virologe Christian Drosten den PCR-Test als Corona-Nachweis publiziert - somit hätte das Klinikum mehrere Wochen Zeit gehabt, sein Labor angesichts "der sich abzeichnenden Pandemie" dazu aufzurüsten. Stattdessen mussten bis 8. April externe Labore beauftragt werden, bis zu vier Tage hätten die Befunde gedauert: "Ein Zustand, der ein Ausbruchsmanagement (...) unmöglich macht". Weil das Bergmann die Molekulardiagnostik outgesourct hat, habe das eigene Labor sich mit den Corona-Tests zudem nicht ausgekannt. Doch es habe auch keinen Austausch mit der benachbarten Charité gegeben, "um Wissensdefizite auszugleichen". Die Diagnostik war auch nicht Teil des Krisenstabs, sie erfährt laut Bericht auch nicht, wie sie mit den vielen positiven Tests Ende März umgehen soll. Und die Schutzausrüstung wird knapp, Handschuhe sollen für die Stationen reserviert werden. Auf Nachfragen habe sich die Geschäftsführung genervt gezeigt: "Nehmt Küchenhandschuhe".

1500 Dokumente wurden gesichtet

Warum waren diese vielfach haarsträubenden Fehler und Versäumnisse, Entscheidungen ohne fachliche Expertise, die schlechte Kommunikation überhaupt möglich? Die Expertenkommission hat dafür aufwendig die Unternehmenskultur und langjährige Entwicklungen untersucht. Rund 1500 Dokumente von Stadt und Klinikum seien gesichtet worden, 68 offizielle und 35 interne Gespräche mit Beschäftigten aller Berufsgruppen im Klinikum geführt worden, sechs davon anonym. Zudem habe die Kommission in 27 externen Gesprächen unter anderen den ehemaligen Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) und die ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Elona Müller-Preinesberger (parteilos) befragt. Weil die Staatsanwaltschaft Potsdam parallel ermittelt, hätten sich die Verdächtigen - auch Geschäftsführer Grebner - nicht gegenüber der Kommission geäußert. 

Machtkampf um das Ziel der Kommission

Die Untersuchungen der Experten gingen manchem offenbar schnell zu weit: Nachdem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen am 15. Juni 2020 aufgenommen hatte, ließ das Klinikum am 24. Juni eine "rechtliche Stellungnahme durch den strafrechtlichen Berater der Geschäftsleitung erstellen", so der Bericht. Die Botschaft: Die Kommission solle sich "auf die in die Zukunft gerichteten Aufgaben beschränken". Auch die Aufsichtsratschefin, Beigeordnete Brigitte Meier (SPD), wollte zu diesem Zeitpunkt die Aufgaben der Expertenkommission verändern. Nach sechs Wochen Machtkampf setzten sich die Experten durch - mit einer eigenen rechtlichen Stellungnahme. 

Bemerkenswert auch, dass sich der Aufsichtsrat - also der Auftraggeber der Untersuchungen - laut Kommission bis zum September weigerte, den Experten "angeforderte Unterlagen zur Verfügung zu stellen" und mit ihnen zu sprechen. Erneut musste eine juristische Stellungnahme der Kommission her, erst dann ließen sich einige Aufsichtsräte überzeugen. 

Amtsärztin Kristina Böhm bei der Pressekonferenz zum Ausbruch und zur Corona-Lage am 13. April 2020.
Amtsärztin Kristina Böhm bei der Pressekonferenz zum Ausbruch und zur Corona-Lage am 13. April 2020.

© Andreas Klaer

Den Boden bereitet für die Klinikumkrise in der Corona-Pandemie hat nach Ansicht der Expertenkommission die Dominanz wirtschaftlicher Interessen. 2005 beschlossen die Stadtverordneten, das defizitäre Bergmann-Klinikum nach Vorschlag der Unternehmensberatung McKinsey zu sanieren, um es vor dem Verkauf zu retten. Die Stadt habe Gewinnabführungen gefordert, Personal und Kosten mussten eingespart werden. Damit sei "die Qualität einer sicheren Patientenversorgung zunehmend aus dem Blick geraten" und sei auch in der Konzernstrategie "nicht verankert" gewesen. Auch der Gesellschafter, die Stadt, habe diese Werte nicht vorgegeben. Zudem seien die Krankenhausfinanzierung durch Bund und Land unzureichend, das Abrechnungssystem für medizinische Leistungen und die Ökonomisierung des Gesundheitssystems honorierten Patientensicherheit und Hygiene nicht.

Konzern war 2019 "nicht mehr investitionsfähig"

Das Klinikum sei "ohne Businessplan" oder langfristige Strategie auf Expansionskurs gegangen, um Rendite zu erwirtschaften. Überproportional viele Ärztinnen und Ärzte würden beschäftigt, "es entsteht der Eindruck, dass die Strukturierung in Fachzentren um persönliche Interessen von Ärzt:innen gebaut ist". Es gebe auffällig viele Führungskräfte: Chefärzte, Zentrumsleitungen, Department-Leitungen und Geschäftsbereichsleitungen. Patientensicherheit und Hygienebestimmungen würden zunehmend vernachlässigt. Dabei sei der Expansionskurs mitnichten erfolgreich, wie es nach außen dargestellt werde, schildert der Bericht. Laut Jahresprüfbericht 2019 sei der Konzern "nicht mehr investitionsfähig" und auf dem Weg in die Liquiditätskrise. 

Die Unternehmenskultur leidet unter Strukturen, die allein auf die Geschäftsführung zugeschnitten sind, analysiert der Bericht. Verantwortlichkeiten seien nicht klar definiert, informelle und intransparente Entscheidungswege spielten der Dominanz des Chefs in die Hände. Die medizinische Geschäftsführung und die ärztliche Direktion sind schwach, weil nicht als Vollzeitstelle besetzt. Wie könne, so die Frage, die medizinische Geschäftsführung mit einer 0,25-Stelle die Verantwortung für das ganze Klinikum wahrnehmen? 

Betten auf der Covid-Verdachtsstation des Klinikums im Mai 2020.
Betten auf der Covid-Verdachtsstation des Klinikums im Mai 2020.

© Andreas Klaer

Die Expertenkommission stellt durch die "Machtkonzentration an der Spitze" eine "systematische Ausgrenzung von Widerspruch und wichtiger Fachexpertise" fest. Mitarbeitende beschrieben Geschäftsführer Grebner laut Bericht als "visionär, zukunftsgerichtet und mitreißend" - aber auch als "arrogant, dominant, keinen echten Widerstand erlaubend". Ohne "persönlichen Draht" laufe nichts, offizielle Strukturen seien "weniger bindend als informale Wege, also Seilschaften". Die Geschäftsführung gewinne so an Macht, weil sie "die Gunst jederzeit willkürlich entziehen" könne und dies auch getan habe.

Es gebe viele Storys, "wie Mitarbeitende für ihre unbequeme Meinung (...) sanktioniert wurden", so der Bericht. Es sei eine "Kultur der Vorsicht und Angst, seine Meinung offen zu äußern" entstanden. Dieses Verhalten habe sich "in der Krisensituation" der Pandemie und des Ausbruchs fortgesetzt" - mit drastischen Folgen.

Der Betriebsrat sei für die Beschäftigten "kein starker Partner auf Augenhöhe", er werde als "elitär und exklusiv" wahrgenommen, habe Hinweise zu Hygiene und mangelnder Reinigung nicht angenommen. 

Nahezu fahrlässige Unterbesetzung bei der Pflege

Im Vergleich zu den Ärzten sei der Pflegebereich personell schlechter ausgestattet, dies führe "zu unzulässigen, nahezu fahrlässigen Unterbesetzungen in den Schichten, beispielsweise Alleinarbeit in der Nachtschicht", so der Bericht. IT-Probleme und unterschiedliche Verfahrensanweisungen erschwerten die Arbeit zusätzlich. 

Auch für das Servicepersonal gebe es "keinen gemeinsamen Standard". Arbeitssicherheit- und Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden komme ebenfalls zu kurz - prägnantes Beispiel: Eine Covid-19-Gefährdungsbeurteilung für die Arbeit auf der so genannten schwarzen Station mit infizierten Patienten und den Umgang mit Verstorbenen sei erst am 14. Juli 2020 im internen System abgelegt worden, "ohne Autor und Erstelldatum".

Große Probleme sieht der Expertenbericht bei der Hygiene. Nach RKI-Vorgaben hätte das Klinikum zum Zeitpunkt des Ausbruchs mindestens 1,75 Vollzeit-Hygieneärzte vorweisen müssen. Faktisch gab es nur eine Ärztin, die jedoch zeitgleich die Mikrobiologie leitete - ohne ärztliche Vertretung. In der Unternehmensführung habe es einen "eklatanten Mangel an Wissen um das klinische Risikomanagement und die Sicherheitskultur" gegeben, so der Bericht. Patientensicherheit sei "kein Thema" gewesen, Verantwortlichkeiten blieben ungeklärt.  Wenn es im Aufsichtsrat um Risikomanagement gegangen sei, dann nicht um Patienten, sondern um wirtschaftliche Kennzahlen. In Gesprächen seien zahlreiche Situationen beschrieben worden, in denen Führungskräfte versuchten, Regeln zugunsten wirtschaftlicher Interessen zu beugen. 

Corona-Tests werden im Mai 2020 im Klinikum-eigenen Labor ausgewertet. 
Corona-Tests werden im Mai 2020 im Klinikum-eigenen Labor ausgewertet. 

© Ottmar Winter

Die damalige Geschäftsführung werde als "clever im Nutzen von rechtlichen Grauzonen" beschrieben, auch wenn es auf Kosten von Mitarbeitenden gehe. Sie sei "oft Kompromisse zu Lasten der Hygiene eingegangen" und habe so "grundsätzlich die Patientensicherheit gefährdet". Hygienerisiken seien aus wirtschaftlichen Interessen in Kauf genommen worden, dazu kamen Konflikte: "Es wird mehrfach von heftigen persönlichen Differenzen zwischen Hygieneärztin und Geschäftsführung berichtet, die mitunter zum Ausschluss der Fachexpertin aus Entscheidungsgremien führte". 

Führungskräfte bagatellisieren Gründe für Ausbruch

Aus kritischen Ereignissen habe das Klinikum kaum gelernt, es gebe keine Strukturen hierfür, stellt der Bericht fest. Das gelte auch für den Corona-Ausbruch. Auch Führungskräfte hätten in den Gesprächen mit der Kommission "bagatellisierende Gründe" für den Ausbruch genannt, beispielsweise "Pech", "Schicksal", "zu intensive Tests" oder "die öffentliche Aufmerksamkeit". Oder die Verantwortung werde bei anderen gesucht - dem Gesundheitsamt oder den angeblich unklaren Meldewegen. Dies führe dazu, dass "das System und seine eingespielten Formen" in Schutz genommen und "selbstkritisches Lernen" verhindert werde.

Wie wird jetzt mit dem Bericht umgegangen?

Wie werden die Stadtpolitik, die neue Klinikum-Geschäftsführung und der Aufsichtsrat nun mit dem Abschlussbericht, den vielen Missständen und den zahlreichen Empfehlungen der Kommission umgehen? 

Aufsichtsratsvorsitzende und Beigeordnete Meier sagte, es gebe "große Übereinstimmung", vieles werde vom Aufsichtsrat geteilt. Für alle Fragen, zu denen es Diskussionsbedarf gebe, werde der Aufsichtsrat mit der Expertenkommission in Klausur gehen. Viele Empfehlungen hätten die Geschäftsführung und der Aufsichtsrat schon in Angriff genommen

Oberbürgermeister Schubert will die neue Klinikum-Strategie "nicht nur dem Aufsichtsrat und dem Klinikum überlassen", sondern mit regelmäßigen Reportings im Hauptausschuss die Stadtverordneten einbinden. Er werde "keinen Zentimeter" davon weichen, das Klinikum als kommunales Haus zu behalten.

Und der Klinikum-Neubau? Die Expertenkommission hält ihn für notwendig, weil auch der verwinkelte Klinikum-Komplex mit 16 unterschiedlichen Gebäuden aus verschiedenen Epochen zum Ausbruch beigetragen habe. Doch von der Frage, "wo und wie wir bauen sind wir noch weit weg", so der Oberbürgermeister.

Auch sei klar, dass es nicht möglich sei, "allen Empfehlungen der Kommission sofort zu folgen", heißt es im Bericht. Das sei auch gut so, denn "das Risiko wäre groß, dass vieles mit dem eingespielten Muster der ,Papierbefriedigung' bearbeitet wird. Es müsse einen "durchdachten Veränderungsprozess" geben. Für dieses "grundlegende Umdenken" sei sicher externe Hilfe nötig. 

Der Abschlussbericht zum Download

Anita Tack und Frank T. Hufert, die Leiter der Expertenkommission zum Corona-Ausbruch am Potsdamer Klinikum.
Anita Tack und Frank T. Hufert, die Leiter der Expertenkommission zum Corona-Ausbruch am Potsdamer Klinikum.

© Stadtverwaltung Potsdam

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