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Etwas HELLA: So viel Charme hältste nich aus

Wir sind in Potsdam so ziemlich bei allem Spitze: beim Bevölkerungszuwachs, beim Baugeschehen und den Grundstückspreisen, beim Ausrichten von Hochzeiten, der Kinderfreundlichkeit und beim Kulturangebot. Auch unser Charme ist legendär.

Wir sind in Potsdam so ziemlich bei allem Spitze: beim Bevölkerungszuwachs, beim Baugeschehen und den Grundstückspreisen, beim Ausrichten von Hochzeiten, der Kinderfreundlichkeit und beim Kulturangebot. Auch unser Charme ist legendär. Allerdings – und da stehen wir den Berlinern in nichts nach – ist er etwas gewöhnungsbedürftig. Die Ansprache „Mensch, kannste nich aufpassen“ oder das Anhupen, wenn ein Opa mal nicht schnell genug über die Straße kommt, ist ja eigentlich nur lieb gemeint, weil der Schimpfende um das Wohl und Wehe seines Mitmenschen fürchtet. Man könnte allerdings auch etwas geduldiger auf die Lahmen und Unaufmerksamen Rücksicht nehmen.

Als Kind habe ich es immer gehasst: Kaum hatte ich in der Straßenbahn einen Platz ergattert, musste ich ihn für ältere Leute räumen. Da achtete meine Mutter streng darauf. Jetzt habe ich allerdings meine Lektion gelernt. Sehe ich ein Kind mit seiner schweren Schulmappe, in der es offenbar Steine schleppt, in die Bahn einsteigen, springe ich auf und biete dem Würmchen meinen Platz an. Und ich komme schon lange nicht mehr auf den Gedanken, dass Mütter oder Väter kleinere Kinder auch mal auf den Schoß nehmen oder muffelige alte Damen vom Mittelgang zum Fenster weiter rutschen könnten. Mich darüber aufzuregen, verbietet mir mein ganz persönlicher Charme.

Bei Busfahrern hört sich Potsdamer Gemütlichkeit übrigens zuweilen so an: Frage: „Bitte, wo fährt der Bus hin?“ Die Antwort: „Erstmal auf die Straße.“ Was war ich froh, dass nicht der nächste Straßengraben angesteuert wurde, da war mir die Fahrtroute doch glatt egal. Als mir an der Ladenkasse im Supermarkt ziemlich viel Kleingeld aus dem Portemonnaie herauskullerte, sah ein Bengel seelenruhig zu, wie ich mühsam die Pimperlinge zusammenklaubte. Und als ich frage, ob er mir nicht helfen könne, erklärt er: „Nee, Sie könnten ja denken, ich will sie beklauen.“ Darauf war ich baff und gestählt, mein Geld allein an mich zu bringen. Oder die Mädchengang im Schwimmbad, die zu viert die Tür zur Dusche blockierte. „Darf ich mal durch?“ Keine Reaktion. „Bitte, darf ich durch?“ Gefuchtel zur Unterhaltung, sonst nichts. Ob Sie es glauben oder nicht: Da habe ich geschubst und plötzlich verstanden mich die Maiden.

Natürlich möchte ich auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als seien die Potsdamer alle Stoffel, denn im Grunde ihres Herzens ist der Märker hilfsbereit und freundlich. Und ich erwarte auch nicht, dass bei uns der richtige Verbeugungswinkel geübt wird. Das soll angeblich in Fernost im Service üblich sein. In Japan, heißt es, verbeuge man sich nach dem Geldziehen sogar vor dem Automaten und sage Danke. Aber ein bisschen mehr charmante Höflichkeit, ein bisschen Hilfsbereitschaft auch bei jungen Leuten, wäre nicht schlecht und würde manches Gerempel ausschließen. Wie wäre es denn mit einem entsprechenden Schulfach? Und sollte mir mal ein junger Mann die Tür aufhalten und er fragt dann auch noch: „Soll ich Ihnen aus dem Mantel helfen?“ Dann würde ich mich bedanken – und in diesem Fall nicht an die MeToo-Bewegung denken.

Unsere Autorin ist langjährige Redakteurin und jetzt freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Potsdam.

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