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Erinnerung bewahren. Leon Schwarzbaum fragt sich angesichts aktueller rechtsextremer Tendenzen, was noch geschehen muss, damit Menschen heute anders denken.

© Sebastian Gabsch

Erinnerungen an den Holocaust: Überleben, um davon zu erzählen

Leon Schwarzbaum überlebte den Holocaust – trotz Auschwitz und Sachsenhausen. Wie, berichtete der 97-Jährige am Montag Auszubildenden in Potsdam.

Von Birte Förster

Ruhig und sachlich erzählt Leon Schwarzbaum von Erlebnissen, die für die meisten Menschen nicht vorstellbar sind. Der 97-Jährige wird kaum emotional, wenn er die Grausamkeiten beschreibt, die er im KZ in Auschwitz erlebt hat. Vielleicht, weil seitdem viele Jahre vergangen sind. Vielleicht aber auch, weil er unermüdlich darum kämpft, das Geschehene vor dem Vergessen zu retten. Seit vielen Jahren geht der Holocaust-Überlebende mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit, sucht Schulen und andere Einrichtungen auf, um besonders junge Menschen über die Grausamkeiten der Nationalsozialisten aufzuklären.

Am Montag berichtete Leon Schwarzbaum Auszubildenden des Energieversorgers e.dis in Potsdam von seinen Erlebnissen im KZ. „Es war ein Kampf ums nackte Überleben. Ich wollte überleben, um Ihnen davon zu erzählen“, sagt Schwarzbaum den 70 Azubis aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern im Saal.

Die Erinnerung an den Mord an einem 17-jährigen Mädchen ist nicht verblasst

Schwarzbaum, der aus einer polnisch-jüdischen Familie stammt, wurde 1921 in Hamburg geboren. Im Alter von zwei Jahren zog er mit seinen Eltern in das oberschlesische Bendzin. Eine Stadt, in der zur damaligen Zeit 30 000 Juden lebten. 1943 wurde Leon Schwarzbaum deportiert. „Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie inhaftiert wurden?“, fragt ein Auszubildender. Er sei so unglücklich gewesen, da seine Eltern bereits tot waren, dass er sich umbringen wollte. Aber er habe es nicht über sich bringen können, da er im Leben noch einen Sinn sehe, erzählt er. Schwarzbaum reagiert freundlich und zugewandt auf die vielen Fragen der jungen Auszubildenden.

In Auschwitz, Birkenau, Buchenwald und Sachsenhausen war er bis zur Befreiung 1945. Dicht gedrängt wurde er mit anderen Inhaftierten in einem Zug ins KZ gebracht, tagelang ohne Essen und Trinken. Er berichtet von einem prägenden Erlebnis: An der Sammelstelle am Bahnhof habe er gesehen, wie ein SS-Offizier ein etwa 17-jähriges Mädchen mit roten Haaren, das versucht hatte zu fliehen, brachte und einem Soldaten den Befehl erteilte, es zu erschießen. Der Soldat blieb stumm und reagierte nicht. Der Offizier zog daraufhin das Mädchen an den Haaren zur Seite und schoss ihm in den Kopf. Noch heute erinnert sich Schwarzbaum an den Namen des SS-Offiziers. Er buchstabiert: P – E – I – K– E – R – T. Es war das erste Mal, dass er Zeuge eines Mordes wurde. „Die SS war grausam und sadistisch“, sagt er.

Immer waren sie hungrig, immer war die Angst allgegenwärtig, vergast oder erschossen zu werden

Es war die erste von vielen grausamen Erfahrungen. „Was ich an Grausamkeiten in den Lagern gesehen habe, kann man sich nicht vorstellen“, sagt Schwarzbaum. Er sah, wie die Menschen dazu gezwungen wurden, sich nackt auszuziehen und in die Bäder geschickt wurden, wo sie vergast wurden. Anschließend wurden ihre Leichen draußen verbrannt. „So hat man die Menschen getäuscht.“

Wie viele andere wurde er selbst morgens um 5 Uhr geweckt, wusch sich mit kaltem Wasser, abends um 19 Uhr ging das Licht aus. Mit Hunderten von Menschen lebte er auf engstem Raum. Immer waren sie hungrig, immer war die Angst allgegenwärtig, vergast oder erschossen zu werden. Später kam er ins Außenlager Haselhorst nach Berlin-Spandau, wo er als Zwangsarbeiter für Siemens in der Werkzeugmaschinenfertigung tätig war. Anders als in den KZs erfuhr er dort auch Hilfe von Vorgesetzten. „Einmal hat einer der Obersten ein Auto vollgestopft mit Brot zu uns ins Lager geschickt“, erinnert sich Schwarzbaum.

„Die Todesmärsche waren schlimmer als das Leben im Lager“, sagt er auch. Als die Russen immer näher rückten, ging es später von Sachsenhausen auf einen Todesmarsch in Richtung Nordwesten, berichtet der KZ-Überlebende. Es gab keinerlei Verpflegung, sie ernährten sich von Gras und Brennnesseln und schliefen auf dem Waldboden. Wer nicht mehr weiterlaufen konnte, wurde erschossen.

„Was muss noch passieren, damit die Menschen anders denken?“

All das erzählt er den Auszubildenden, die andächtig zuhören. Und gleichzeitig weiß er auch: „Man kann etwas sehen und man erlebt es nicht“, antwortet er auf die Frage nach heutigen Filmen über Auschwitz. Richtig vorstellen könne sich schließlich niemand, der es nicht selbst erlebt hat, was in den Konzentrationslagern passiert ist. Dennoch: Er wird nicht müde, ein Bewusstsein für das Vergangene zu schaffen. Seine Frau, selbst Christin und vom KZ verschont geblieben, habe ihn sehr dabei unterstützt. Schwarzbaum lernte sie nach dem Krieg in Berlin kennen, wo er noch heute lebt.

Ob er verzeihen könne, kommt noch eine Frage aus dem Publikum. „Ich habe nicht das Recht zu verzeihen“, sagt Schwarzbaum. Das könnten nur die Toten. Den jungen Leuten gibt er abschließend mit auf den Weg: „Sport zu treiben, denn das hat mein Leben gerettet, und das weiterzugeben, was ich Ihnen heute erzählt habe.“ Bei den Azubis stößt das, was der 97-Jährige berichtet, auf reges Interesse. So höre man es aus dem Mund von jemandem, der es selbst erfahren hat, und nicht nur aus den Geschichtsbüchern, sagt der 16-jährige Sven Kirsche.

Solche Zeitzeugenberichte scheinen in der heutigen Zeit, in der Gewalt gegen Geflüchtete, aufkeimender Antisemitismus und rechte Parteien wieder aktuell sind, wichtiger denn je. Das lässt auch Schwarzbaum nicht unberührt: „Ich bin traurig, dass man heute noch Parteien hat, die ein braunes und nationalsozialistisches Gedankengut haben und antisemitisch sind“, sagt er. Und fügt hinzu: „Was muss noch passieren, damit die Menschen anders denken?“

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