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Voller Erwartung. Zehntausende Menschen warteten am Tag von Potsdam vor der Nikolaikirche und nahmen Reichspräisdent Paul von Hindenburg in Empfang. Vor dem Staatsakt in der Garnisonkirche besuchte er dort einen Gottesdienst.

©  PNN-Repro

Eine Neubewertung: Der doppelte Mythos

Warum der „Tag von Potsdam“ nicht das meisterhaft inszenierte Kabinettstück nationalsozialistischer Massenlenkung war, von dem allgemein immer ausgegangen wurde. Eine zeithistorische Neubewertung

Der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 ist im Gedächtnis unserer Zeit als klassisches Beispiel einer listig berechneten Verführung gespeichert: Kaum ein Schulbuch zur deutschen Zeitgeschichte verzichtet auf den berühmten Händedruck vor der Potsdamer Garnisonkirche, mit dem ein als Biedermann kostümierter Reichskanzler Hitler in verlogener Verbeugung vor Reichspräsident Hindenburg das Bündnis von deutschnationaler Reaktion und nationalsozialistischer Revolution besiegelte.

Wir glauben auch zu wissen, wem wir dieses meisterhaft inszenierte Kabinettstück nationalsozialistischer Massenlenkung zu verdanken haben: Hitlers dämonischem Propagandavirtuosen Joseph Goebbels, der sich mit voller Kraft in seinen Auftrag gestürzt hatte, mit einer genial inszenierten Vernebelungsveranstaltung nicht nur Menschen auf der Straße, sondern vor allem das konservative Bürgertum hinter sich zu bringen. So etwa lautet die historische Meistererzählung, die den „Tag von Potsdam“ als Paradebeispiel totalitärer Verführungsmacht hinstellt. Wie die immer noch gängige Annahme, dass die Nazis selbst den Reichstag in Brand gesteckt hätten, lieferte sie über Jahrzehnte der sogenannten Selbstviktimisierung der Deutschen in Ost und West historischen Halt. Wie kaum ein anderes Ereignis bedient sie das nach 1945 entwickelte Selbstverständnis der Deutschen, selbst Opfer des nationalsozialistischen Unheils geworden zu sein.

Längst ist diese Sicht von der Forschung überholt worden; längst ist der totalitäre Verführer Hitler in einen Interpretationsrahmen gestellt worden, der seine Macht und seine zunehmende Handlungsradikalität entscheidend auf die messianische Führersehnsucht in der deutschen Gesellschaft und ihre Bereitschaft zurückführt, „dem Führer entgegenzuarbeiten“. Doch die Deutung des „Tags von Potsdam“ als perfekt inszenierten Volksbetrug hält ihre Stellung unangefochten; und dies bis in den Streit um den Wiederaufbau der Garnisonkirche hinein. Doch dieses Bild ist nicht nur unmodern, es ist vor allem unhaltbar: Der „Tag von Potsdam“ war keineswegs das Produkt einer raffinierten geschichtspolitischen Regie.

Schon die Wahl des Veranstaltungsortes ging in ihrem Ursprung nicht auf den Willen der von Hitler geführten Reichsregierung zurück, sondern auf den Brandanschlag vom Abend des 27. Februar 1933, der den Berliner Reichstag in eine rauchgeschwärzte Ruine verwandelt hatte. Da Hitler sich angesichts der der KPD zugeschriebenen Brandstiftung ein noch besseres Wahlergebnis erwartete, drängte er in der ersten Kabinettssitzung nach dem Reichstagsbrand darauf, den am darauffolgenden Sonntag zu wählenden Reichstag zur Eröffnungssitzung nach Potsdam in das Stadtschloss einzuberufen. Erst als die Sondierungen bei der Potsdamer Schlösserverwaltung erfolglos blieben, weil weder das Schloss noch ein anderer Repräsentativbau einen Saal für 600 Abgeordnete vorweisen konnte, verfiel ein Potsdamer Obermagistratsrat auf die kühne Idee, die Garnisonkirche als Ort der Reichstagseröffnung vorzuschlagen. Die aber bot sich als Sakralraum und überdies Grablege zweier Preußenkönige eher aus deutschnationaler als aus nationalsozialistischer Sicht für die konstituierende Sitzung des Parlaments an.

Deswegen stufte der zuständige Reichsinnenminister Frick (NSDAP) die Angelegenheit als derart brisant ein, dass er den Beteiligten zunächst ein striktes Schweigegebot auferlegte, um sich nicht durch eine etwaige Ablehnung Hitlers zu desavouieren. Doch ein Alternativvorschlag stand in der nächsten Kabinettssitzung nicht zu Gebote, und so erklärte sich Hitler zur Verblüffung seines Vizekanzlers Papen einverstanden, den Reichstag an einem Ort zu eröffnen, der das neue „Dritte Reich“ ganz in die Kontinuität des 1918 untergegangenen Zweiten Reichs stellen würde.

Doch der Widerstand der evangelischen Kirche, die sich sofort an den Reichspräsidenten wandte, verhinderte die Umsetzung dieses Vorschlags. Er führte nach einigem Hin und Her am 7. März zu einem Kompromiss, der die Versammlung in der Garnisonkirche auf einen feierlichen Staatsakt reduzierte und ihr einen nach Konfessionen getrennten Auftaktgottesdienst in der evangelischen Nikolaikirche bzw. in der katholischen Stadtpfarrkirche voranstellte. Die eigentliche Reichstagseröffnung aber wurde einem gesonderten Akt in einem benachbarten Profangebäude vorbehalten, dem „Langen Stall“. Kurz darauf war auch diese Festsetzung bereits wieder gegenstandslos, als nämlich Hitler und Göring bei einem Lokaltermin zur allgemeinen Überraschung entschieden, den Eröffnungsakt auf den 21. März vorzuziehen. In zwei Wochen aber war der Lange Stall nicht versammlungstauglich umzubauen, sodass am Ende die eigentliche Reichstagseröffnung aus bautechnischen Zwängen nun doch in die Berliner Kroll-Oper verlegt werden musste und für Potsdam nur eine zeremonielle Auftaktveranstaltung ohne politische Bedeutung übrig blieb.

Erst nachdem all diese Festlegungen bereits getroffen waren, trat mit Joseph Goebbels jener Akteur auf die Bühne, dem die Legende die ganze Verantwortung für die Potsdamer Großveranstaltung zuschreibt. Am 13. März wurde Goebbels zum Minister des neu geschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda berufen, und ihm blieb kaum mehr als eine Woche, um das Potsdamer Projekt umzusetzen, das von einem Tag auf den anderen zur öffentlichen Nagelprobe für die Existenzberechtigung seines Medienministeriums geworden war. Von souveräner Regie kann in dieser Vorgeschichte keine Rede sein, in der Zufälle, Kompromisszwänge und Ad-hoc-Entscheidungen eine erheblich größere Rolle spielten als der von Goebbels im Nachhinein reklamierte Anspruch, die Reichstagseröffnung „zum ersten Mal im Stil nationalsozialistischer Formgebung“ abzuhalten.

Ein interessantes Indiz dafür, dass die von den Umständen erzwungene Entscheidung für die Potsdamer Garnisonkirche eine für sie ganz ungewollte Signalwirkung zu entfalten drohte, lieferte die NS-Führung selbst. Denn weder Hitler noch Goebbels nahmen an dem auftaktbildenden Gottesdienst in der katholischen Stadtpfarrkirche teil. Sie entwanden sich dem Korsett des konservativen Zähmungskonzepts, indem sie stattdessen in trotzig-revolutionärer Kämpferhaltung den Luisenstädtischen Friedhof in Berlin-Kreuzberg aufsuchten und dort Kränze an den Gräbern zu Tode gekommener SA-Männer niederlegten.

Als Symbol nationalsozialistischer Verführungskraft taugt der „Tag von Potsdam“ also nicht. Ebenso wenig stützt er aber auch die Behauptung, dass an diesem Tag die nationalkonservativen Eliten ihre symbolische Kapitulationsurkunde unterzeichnet hätten. Hinter der vermeintlichen Versöhnung von „alter Größe und junger Macht“, die die Propaganda im „Dritten Reich“ herausstrich, verbarg sich in Wirklichkeit eine Konkurrenz um die symbolpolitische Vorherrschaft innerhalb des rechten Lagers, aus dem an diesem 21. März der bürgerliche Nationalismus und nicht die NS-Bewegung als Sieger hervorging. Potsdam stand an diesem Tage weitgehend im Zeichen der monarchisch-konservativen Tradition. Sie zeigte sich in der frenetischen Begeisterung, mit der der 85-jährige Reichspräsident vor und nach dem Gottesdienst in der Nikolaikirche ebenso gefeiert wurde wie bei einer anschließenden Triumphfahrt durch die Stadt nach Sanssouci und zurück. Ebenso schien der Staatsakt selbst den symbolpolitischen Sieg des monarchischen Restaurationsgedanken über die braune Revolutionsideologie zu unterstreichen. Die unangefochtene Mittelpunktstellung wahrte auch hier nicht Hitler, sondern Hindenburg. Zu seinen Ehren erhoben sich die Ehrengäste, als der Präsident in der Feldherrnuniform auf den Altar der preußischen Hofkirche zuschritt, um vor der leeren Hohenzollernloge den Marschallstab zum Gruß an seinen Kaiserlichen Herrn zu heben, bevor er auf dem ihm bestimmten Ehrensessel Platz nahm. Nur während seiner eigenen Rede vermochte dann Hitler kurzzeitig das ganze Interesse der Zuschauer auf sich zu ziehen. Aber auch seine von antisemitischen Anklängen freie Regierungserklärung ging an keiner Stelle über nationalkonservative Ziele hinaus und bewegte sich mit ihrem Aufruf zur nationalen Einheit ganz in dem Rahmen, den zuvor der Reichspräsident in seiner eigenen Ansprache gesteckt hatte.

Die weitere Zeremonie war wieder ganz von Hindenburg beherrscht, der Hitler mit einem bewegten Händedruck dankte, um sich dann nur in Begleitung zweier Adjutanten an die Königsgruft hinter dem Altar zu begeben und vor einem schweigend verharrenden Auditorium innere Zwiesprache mit dem toten Preußenherrscher zu halten. Der Reichskanzler blieb von dieser Zeremonie ausgeschlossen, obgleich sie eine einzigartige Gelegenheit geboten hätte, Hitler vor den Sarkophagen der Preußenkönige das Herrscherheil aus der Hand Hindenburgs empfangen zu lassen. Anschließend nahm wieder Hindenburg, für den ein eigenes Holzpodest errichtet worden war, vor der Kirche die von Eliteformationen der Reichswehr angeführte Parade ab, der sich zahllose „nationale Verbände“ anschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass an diesem Tag die bürgerliche Rechte vor Hitler kapituliert habe, alles aber darauf, dass das von Hindenburg und Papen verfolgte Zähmungskonzept anschlüge und die bislang so plebejische und gewaltorientierte Hitlerbewegung sich am Ende in die Tradition eines restaurativen Preußentums eingefügt hätte.

Dass der „Tag von Potsdam“ dennoch zum symbolpolitischen Gründungstag des „Dritten Reiches“ werden konnte, erklärt sich in erster Linie weder durch nationalsozialistische Beeinflussungskunst noch durch bürgerlich-konservative Handlungsschwäche. Entscheidende Verantwortung kam vielmehr der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu und ihrem übermächtigen Drang nach einer historischen Zeitenwende, die sich in der politisch belanglosen Zeremonie der Parlamentskonstituierung ihr ausdrucksstarkes Symbol suchte. Der „Tag von Potsdam“ war Resultat eines übermächtig gewordenen gesellschaftlichen Willens zu einem grundlegenden politischen Stilwechsel. Dieser Wille einte die von dicht gestaffelten Polizeiketten nur mühsam zurückgehaltenen Massen auf den Potsdamer Straßen mit den Hörern der reichsweiten Rundfunkübertragung und den Teilnehmern an den zahllosen Parallelfeiern überall im Reich. Sie alle erlebten die Potsdamer Feier als eine Überwindung der nationalen Zerrissenheit und als eine Versöhnung zwischen Vergangenheit und Zukunft, die die Weimarer Jahre symbolisch aus der Geschichte ausradierten.

Die Verbindung der frenetischen Massenbegeisterung mit der augenfälligen Einhegung Hitlers und seiner Bewegung ließ an diesem Tag Hindenburgs letzte Vorbehalte gegenüber seinem Kanzler dahinschmelzen. „Gott sei Dank, dass wir endlich so weit sind!“, fasste er seinen Eindruck seiner inneren Bewegtheit zusammen und fand nun nichts mehr dabei, zwei Tage später ein Ermächtigungsgesetz zu unterzeichnen, das die letzten verfassungsmäßigen Sicherungen gegen die NS-Diktatur aufhob. Kurz: Der „Tag von Potsdam“ wurde zu einem machtpolitischen Erfolg des NS-Regimes, gerade weil er ihm symbolpolitisch in vieler Hinsicht so missraten war, und am 21. März 1933 zerbrach das konservative Zähmungskonzept, gerade weil es sich so eindrucksvoll bewährt zu haben schien.

Martin Sabrow

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