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Landeshauptstadt: Ein Verein, den es im Idealfall nicht gäbe

Potsdam Kultür vermittelt kostenlose Tickets an Geringverdiener. Um den Verein war es still geworden, nun will er verstärkt für sich werben

Als Eva-Maria Hess ankam, wollte sie am liebsten gleich wieder weg. Nach neun Jahren, in denen sie in London studierte und anschließend durch Indonesien, Indien, Australien und Bali reiste, hatte sie eigentlich nur einen kurzen Zwischenstopp in ihrer Heimatstadt Potsdam geplant. Doch Ärzte diagnostizierten Knieprobleme bei der 36-Jährigen und rieten zu einer Pause vom Reisen. Also meldete sich Hess beim Jobcenter, gleich bei ihrem ersten Beratungstermin erfuhr sie von Potsdam Kultür. „Alle Berater waren total nett“, erinnert sie sich. „Einer drückte mir den Flyer des Vereins in die Hand. Da ich Musik studiert habe, dachte er sich, dass ich kulturinteressiert sei.“

Kultür Potsdam ist das Hauptprojekt des Vereins Neue Kulturwege, der es sich zur Aufgabe macht, kostenlose Eintrittskarten an Bedürftige zu vermitteln: für Konzerte, Sportturniere, Theaterstücke, Kinofilme und viele weitere Veranstaltungen. Den Verein, um den es im vergangenen Jahr etwas stiller geworden war, will Hess jetzt umkrempeln und vor allem: wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. „Kultür wird laut“, nennt sie ihr Vorhaben.

Aber der Reihe nach. Mit dem Flyer, den Hess vor gut eineinhalb Jahren im Jobcenter erhielt und der sie tatsächlich sehr interessierte, meldete sie sich bei Kultür Potsdam an und wanderte so in die Datenbank des gemeinnützigen Vereins. Ende Oktober dann klingelte ihr Telefon, Ulrike Cymek vom Verein fragte, ob sie am Wochenende Zeit habe: Zwei Tickets für eine Tanz- und Musikperformance in der fabrik Potsdam sollte sie erhalten. „Das hört sich wirklich gut an“, warb die Kultür-Mitarbeiterin noch. „Na dann, ich hab doch zwei Karten, komm mit“, hat Hess der netten Telefonstimme also vorgeschlagen. Die zwei Frauen verstanden sich gut, nachher sagte Cymek zu ihrer Begleitung: „Du bist so brabbelig und redselig, möchtest du nicht bei uns mitmachen?“ Gesagt, getan. So wurde Hess Ehrenamtliche und arbeitete zunächst als Projektkraft, vermittelte selber Karten. Im Februar dann hat sich Cymek etwas aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen, nun übernimmt Hess das Ehrenamtsmanagement und alles andere, was anfällt. Fast jeden Tag ist sie in dem kleinen Büro in Babelsberg.

Das „Brabbelige“, man merkt es ihr sofort an. Aufgeregt erzählt Hess von den Projekten, die Kultür plant, und von denen, bei denen sich der Verein um Fördergeld bewirbt, dabei lacht sie oft und ansteckend, dann fragt sie: „Rede ich zu schnell?“

Der Verein, für den die Potsdamerin jetzt so brennt, wurde im April 2013 gegründet, vier Jahre später, im April dieses Jahres, wurde die zehntausendste Karte an einen bedürftigen Potsdamer vermittelt. Die Veranstaltungshäuser der Stadt planen einen Teil ihrer Karten für Kultür ein, manchmal sind es auch Restkarten, die nicht verkauft werden konnten und dann an den Verein abgegeben werden. Jeder Potsdamer Bürger, der nicht mehr als 900 Euro netto verdient, kann sich bei Kultür anmelden und dabei auch Präferenzen angeben: Ausstellung und Museum? Rock- und Pop-Konzerte? Oder doch lieber ins Kino? Sollte es passende Karten geben, melden sich die Helfer von Kultür telefonisch. Diesen Part übernimmt derzeit häufig Praktikantin Stella Gnädig. Für ein Klassikkonzert in der Nikolaikirche und für ein Fußballspiel des SV Babelsberg 03 hat sie in dieser Woche schon Tickets vergeben. „Die Leute sind traurig, wenn sie keine Zeit haben und immer sehr dankbar“, erzählt die junge Frau.

„Wir alle wohnen in Potsdam, wir alle gestalten Potsdam“, sagt Hess. Kulturelle Teilhabe sei deshalb auch für alle notwendig. Besonders für Kinder aus einkommensschwachen Elternhäusern, die sonst nicht die Möglichkeit hätten, Veranstaltungen zu besuchen. „Nehmen wir das Beispiel Momo von Michael Ende“, sagt Hess. „Wenn ein Kind da sieht, wie die Zeit geklaut wird, wird es aufmerksamer, kreativer, liebevoller.“ Sie sagt auch, es gehe dem Verein um Chancengleichheit. „Idealerweise gäbe es uns doch gar nicht.“

Die meisten Karten, nämlich 3680 Stück, wurden im Jahr 2015 vermittelt, im vergangenen Jahr waren es nur noch 2341. Diesem Trend will Hess nun entgegensteuern. „Wir waren auf einem Tiefpunkt und das soll sich jetzt wieder ändern“, sagt Hess resolut. Der Verein könne nur agieren, wenn es genug Ehrenamtliche gibt, die Karten vermitteln, Leute anrufen, Partner betreuen. Und davon gab es im vergangenen Jahr wenig. Um mehr Ehrenamtliche zu begeistern, will Hess zum einem mit dem Verein in diesem Jahr präsenter sein – auf Festen, Veranstaltungen, in den sozialen Medien. Derzeit kümmern sich 20 freiwillige Helfer um die Belange von Kultür. Auf der anderen Seite bemüht sie sich, die finanzielle Grundlage sicherzustellen: Die Büroräume gehören dem Oberlinhaus und dürfen vom Verein kostenfrei genutzt werden. Ansonsten ist man auf Unterstützer angewiesen und bewirbt sich für verschiedene Projektförderungen.

Hess ist wichtig, dass alle Berechtigten das Angebot wahrnehmen. In einer Statistik hat sie gelesen, dass es im Jahr 2016 3713 Kinder in Potsdam gab, deren Eltern auf Sozialhilfe angewiesen waren. „Bei uns sind aber nur 509 registriert.“ Insgesamt waren im Juli 597 Einzelpersonen und 390 Kinder von Einzelpersonen bei Kultür registriert. Daneben kooperiert der Verein mit 60 Sozialpartnern – darunter die Arbeiterwohlfahrt (Awo), Frauenhäuser und Flüchtlingsheime, die die Karten an ihre Mitglieder weitergeben. So kommen nochmal 3016 Einzelpersonen und 119 Kinder hinzu.

Kultür hat nachgerechnet: Theoretisch kostet es den Verein 3,55 Euro, eine Karte zu vermitteln. „Das ist nicht viel, so viel kostet ein Kaffee.“ Im Moment kommen auf eine Registration 0,39 Tickets. Hess will noch mehr Kultureinrichtungen als Partner zu gewinnen – derzeit sind es 62. Noch ein Grund mehr für den Verein, wieder präsenter zu werden.

Eins ist klar: So schnell will Eva-Maria Hess nicht wieder weg aus Potsdam. Abgesehen davon, dass sie die Knie noch immer schonen muss: Sie hat jetzt eine Tätigkeit gefunden, die genauso erfüllend ist wie aufregende Weltreisen. Vor einigen Woche holte eine ältere Dame ihre Karten für die Schlössernacht im Vereinsbüro ab. „Die Frau war so gerührt, mir sind fast die Tränen gekommen“, erzählt Hess. „In solchen Momenten ist es einem dann egal, dass es manchmal nur fünf Stunden Schlaf pro Nacht gibt.“

Anne-Kathrin Fischer

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