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Genau hingeschaut. Horst Goltz ist einer von bundesweit rund 1250 ehrenamtlichen phänologischen Beobachtern. Er notiert täglich Veränderungen an Bäumen und Pflanzen. Aus den Daten zieht der Deutsche Wetterdienst Rückschlüsse aufs Klima.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Die zehn Jahreszeiten

Horst Goltz beobachtet seit 60 Jahren für den Wetterdienst Bäume und Pflanzen auf Hermannswerder

Für Horst Goltz hat das Jahr zehn Jahreszeiten. Und auch wenn die aktuellen Temperaturen spätsommerlich anmuten: Seit Mittwoch haben wir in Potsdam Spätherbst. Das entscheidene Anzeichen dafür: Die Blätter der Stieleiche haben sich verfärbt. Für jede der zehn sogenannten phänologischen Jahreszeiten gibt es solche Merkmale. Wenn die Stachelbeersträucher grün werden, beginnt der Erstfrühling, wenn die Äpfelbäume blühen, der Vollfrühling. Frühsommer wird es mit der Holunderblüte, Hochsommer mit der Lindenblüte. Die bunten Eichenblätter hat Horst Goltz bei seiner obligatorischen Nachmittagsrunde über die Halbinsel Hermannswerder an drei genau festgelegten Bäumen beobachtet und mit Datum notiert. Horst Goltz nimmt es sehr genau. Und das muss er auch.

Seit beinahe 60 Jahren ist Goltz als phänologischer Beobachter unterwegs: Der 82-Jährige ist einer von derzeit bundesweit rund 1250 Ehrenamtlern, die im Auftrag des Deutschen Wetterdienstes den Verlauf der Jahreszeiten vom Vorfrühling bis zum Winter anhand von Veränderungen an Pflanzen bestimmen. Seine Beobachterstation mit der Nummer 12 005 0000 gehört zudem zu einem europaweiten Netz, das sich über 30 Länder von Utsjoki in Nordfinnland bis nach Cosoleto auf Italiens „Stiefelspitze“ Kalabrien spannt.

„Phänologie ist die Lehre von den Erscheinungen in der Natur“, erklärt Goltz bei einer Tasse Kaffee und süßem Quittenbrot in seiner Wohnung in der Leiterstraße. Die Aufzeichnungen über Knospen- und Blütenentwicklung, Blattfärbung und Blattfall von Dutzenden verschiedener Pflanzen- und Baumarten füllen dort mittlerweile schon mehrere Aktenordner. Sein ganzes Leben hat der studierte Biologe in und um Hermannswerder verbracht, ist im heutigen Evangelischen Gymnasium zur Schule gegangen, arbeitete später im Pflanzenschutzamt in der Templiner Straße, wo er auch seine Frau kennenlernte. „In 40 Dienstjahren war ich vier Tage krank“, erzählt Goltz.

Ähnlich gewissenhaft verfolgt er seine ehrenamtliche Arbeit: Von Februar bis November ist er fast jeden Nachmittag unterwegs. Dann radelt er eine etwa fünf Kilometer lange Strecke ab, ausgerüstet mit Fernglas, um an immer denselben Bäumen die Knospen- und Blütenentwicklung zu verfolgen: von der Haselblüte im Februar bis zum Nadelabwurf der Lärche. „Das wirkt sich auch auf die Urlaubsplanung aus“, erklärt Goltz. Im April oder Mai, wenn in der Natur besonders viel los ist, hat er Potsdam nie verlassen: „Ich kann dann nicht weg, vielleicht platzen morgen die Knospen.“ Der Wetterdienst erkennt nur Beobachtungen an, die vor Ort gemacht wurden. Und Goltz macht keine Kompromisse. „Vertreter zu finden, ist heute fast unmöglich“, sagt er. Manchmal konnte ihm immerhin eine Nachbarin aushelfen.

Für den Wetterdienst ist der Potsdamer ein seltener Glücksfall – nur fünf Kollegen bundesweit haben so lange durchgehalten wie Goltz. Schon zum 40-jährigen Dienstjubiläum als Beobachter bekam er vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog die Bundesverdienstmedaille verliehen. Auch jetzt erreichte ihn wieder ein Dankesschreiben aus der Wetterdienst-Zentrale in Offenbach: „Gerade die langen Reihen, die von einer Person aufgestellt werden, sind aus wissenschaftlicher Sicht besonders wertvoll“, schreibt Professor Gerhard Adrian: „Das Klima kann direkt und ohne den Umweg der Zusammenschau mit weiteren Meldungen aus der Region abgelesen werden.“

Aus der Beobachterarbeit von 60 Jahren hat der Wetterdienst eine „phänologische Uhr“ für Potsdam-Hermannswerder errechnet. Daran wird der Klimawandel greifbar: Während der Vorfrühling – Kennzeichen ist die Schneeglöckchenblüte – von 1953 bis 1990 im Durchschnitt noch am 1. März begann, fängt er heute eine gute Woche früher, am 22. Februar, an. Der Winter dagegen – Merkmal: Blattfall der Stieleiche – beginnt heute im Durchschnitt eine gute Woche später, am 4. November.

Auch sonst hat sich in 60 Jahren viel getan in dem Gebiet zwischen Hermannswerder, Forsthaus Templin und der Leipziger Straße: Bäume wurden abgeholzt, ganze Pflanzenarten sind verschwunden. Die gelb blühende Sumpfdotterblume zum Beispiel. „Früher gab es die im Uferbereich auf Hermannswerder nahezu flächendeckend, heute ist nicht eine einzige mehr da.“ Jüngster Verlust: der Wiesenfuchsschwanz. „Der ist seit dem vergangenen Jahr weg“, berichtet Goltz.

Zu seinem ungewöhnlichen Nebenjob kam er mit 23 Jahren: Damals studierte er an der Brandenburgischen Landeshochschule, sein Professor suchte nach einem Nachfolger für die Station. Eine Vorliebe zum Sammeln hatte Goltz aber auch vorher – und zwar nicht nur für Briefmarken oder Münzen. Als Schüler im Zweiten Weltkrieg legte er heimlich eine Sammlung von Flugblättern der Alliierten an – und setzte damit sein Leben aufs Spiel.

Das aktuelle Phänologenjahr geht nun seinem Ende zu, erklärt Goltz: „Jetzt steht nur noch der Blattfall an.“ Wenn erst die Lärche ihre Nadeln verloren hat, hat Goltz ein paar Wochen lang keine Verpflichtungen. „Ich bin aber kein Winterfan“, sagt er und lacht.

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