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Landeshauptstadt: Die Sehnsucht, zu glauben

Die Nikolaikirche ist Potsdamer Wahrzeichen, Besuchermagnet und Konzerthaus. Jeden Mittwoch hat hier auch die Kircheneintrittsstelle geöffnet

Von Andreas Klaer

Lesen Sie am Freitag, 28. April:

Potsdamer Studentengemeinden

Die lilafarbene Fahne dreht sich zwischen den enormen Säulen am Portikus der Nikolaikirche. „Kircheneintrittsstelle in der St. Nikolaikirche“ ist darauf zu lesen. Und die Öffnungszeiten: mittwochs von 17 bis 18 Uhr. Die Touristen, die daneben stehen bleiben, haben erst einmal keinen Blick für dieses Angebot. Wer die Treppen zur Nikolaikirche hinaufgestiegen ist, der dreht sich unwillkürlich noch einmal um. Von hier aus bietet sich ein fantastischer Blick über den Alten Markt mit seinen alten und neuen Gebäuden. Ein Panorama, das viele Besucher fotografieren möchten.

Und auch das Kircheninnere des gigantischen quadratischen Baus hält erst einmal zum Innehalten an. Der Blick nach oben in die gewaltige Tambourkuppel macht schwindeln, optisch gehalten wird das Rund von vier Prophetenfiguren in den Ecken, gemalt in leuchtenden Farben und mit viel Gold. Licht fällt durch die 14 Fenster weiter oben im Kuppelrund, über jedem ist eine Skulptur zu erahnen. Erhebend fühlt es sich an, hier zu stehen. Und gleichzeitig fühlt man sich ganz klein.

Die Kircheneintrittsstelle, ein Seitenraum rechterhand, macht dagegen einen schlichten, heimeligen Eindruck. Von Kindern gestaltete Ölgemälde mit biblischen Motiven hängen an der Wand, an der Stirnseite hängt ein mit Mosaik gestaltetes Kreuz, auch das eine Arbeit der Kinder der Gemeinde. An dem einfachen Tisch in der Mitte sitzt Joachim Zehner mit gefalteten Händen. Und wartet.

Als Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Potsdam ist Zehner so etwas wie der Chef der evangelischen Kirche in der Stadt – und hat eigentlich genug zu tun. Aber diese eine Stunde jeden Mittwochnachmittag in der Nikolaikirche ist ihm wichtig. Denn an der Willkommenskultur in den evangelischen Kirchen, da ist er überzeugt, muss noch gearbeitet werden. „Deshalb ist die Kircheneintrittsstelle zur Chefsache geworden“, sagt er und lächelt.Heute hat Zehner schon ein Erfolgserlebnis gehabt. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Formular, ausgefüllt von einer Potsdamerin, die wieder in die Kirche eintreten will – weil sie Taufpatin werden möchte. Dass Menschen „in den mittleren Jahrgängen“ sich wieder auf die Kirche besinnen, erlebt Zehner öfter – und nicht selten sind Kinder im Spiel. Dann erinnerten sich junge Eltern an ihre eigene Zeit in der Jungen Gemeinde und wollten ihren Kindern die gleichen Möglichkeiten mitgeben, so seine Erfahrung. Überzeugen muss der Superintendent niemanden mehr: Wer zur Kircheneintrittsstelle kommt, wisse meist genau, was er wolle.

Zehner nimmt sich dann Zeit für ein Gespräch, fragt nach den Beweggründen und der Wunschgemeinde, zu der er – so nicht schon vorhanden – den Kontakt vermittelt. Er bietet auch an, für den Eintrittswilligen zu beten oder ihm den Segen zuzusprechen. Dabei kann es zu berührenden Szenen kommen, erzählt er: „Wenn man betet und es rollen die Tränen, dann merkt man, dass das emotional ein großer Schritt für den Menschen ist.“ Theologisch gesehen ist der Kircheneintritt dann erst mit der Teilnahme am Abendmahl in der gewünschten Gemeinde vollzogen, erklärt er.

„Die Sehnsucht, glauben zu können, ist groß“, sagt Zehner. Gerade jetzt, in den angesichts der Weltlage gefühlt unsicher gewordenen Zeiten, könne der Glaube Halt geben. „Der Blick auf das Kreuz ist auch die Bereitschaft, den Grausamkeiten der Welt ins Gesicht zu sehen in der Gewissheit, dass auf Karfreitag der Ostersonntag folgt“, sagt der Superintendent – auf Jesus Kreuzigung folgt nach christlichem Glauben die Auferstehung.

60 000 Kircheneintritte zähle die evangelische Kirche Deutschland pro Jahr. Im Kirchenkreis Potsdam sind es im vergangenen Jahr trotz des Bevölkerungszuwachses nur 84 neue Mitglieder geworden. Über die Kircheneintrittsstelle, die seit 2011 zunächst lange von Potsdamer Pfarrern im Ruhestand betrieben wurde, sind seitdem insgesamt 58 Mitglieder neu geworben worden – die Frau, die gerade dazugekommen ist, noch nicht mitgerechnet. An vielen Mittwochnachmittagen bleibt Zehner also auch allein in dem Raum sitzen. Und trotzdem ist er zuversichtlich, hat auch Glaubenskurse für Erwachsene, die sich mit dem Gedanken an eine Taufe tragen, initiiert: „Ich finde es toll, wer alles kommt – das gibt mir Freude und Kraft für den Dienst.“

Die Nikolaikirche zu öffnen, das ist auch der Gemeinde ein Anliegen. Allein schon wegen der zentralen Lage ist das Haus wichtiger Anlaufpunkt für Besucher der Stadt. Die Entwicklung des Alten Marktes zum neuen Touristenmagneten schlägt sich deutlich in den Gästezahlen nieder, wie Pfarrer Matthias Mieke sagt: 34 389 Besucher wurden in den ersten drei Monaten 2017 in der Kirche gezählt – Gottesdienst- und Konzertbesucher nicht mitgerechnet. Im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum noch 12 723 Menschen.

Öffnen will sich die Gemeinde im Herzen der Stadt aber bewusst auch Potsdamern, denen es finanziell nicht so gut geht. „Sonst bekommt man den Eindruck, hier ist der Platz der Reichen und Schönen“, fasst es Harald Geywitz, der ehrenamtliche Vorsitzende des Gemeindekirchenrats zusammen. So ist die Aktion „Gedeckter Tisch“ entstanden: ein Wochenende, an dem es in der Kirche neben warmen Speisen und einem Musikprogramm auch soziale Angebote gibt – von der Beratung in medizinischen und rechtlichen Fragen bis hin zum Gratis-Haarschnitt. Mehrere Tausend Besucher nahmen das zuletzt in Anspruch.

Musik ist ein anderer Schwerpunkt im Gemeindeleben – auch das hat Tradition, die bis in die Vorwendezeit zurückreicht. Zum Beispiel mit den jährlichen Adventssingen der Potsdamer Chöre, für die das Gotteshaus regelmäßig ausverkauft ist, wie Harald Geywitz sagt. Der 45-Jährige ist auch der Vorsitzende des Vereins Musik in St. Nikolai, hilft bei der Vorbereitung der Konzerte und Konzertreihen, die über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Nikolaikantor Björn O. Wiede auflegt. Schließlich ist die Kirche mit den rund 1000 Sitzplätzen auch der größte Potsdamer Konzertsaal, sagt Geywitz. Repräsentative Veranstaltungen wie zum 25. Jubiläum des Tags der Deutschen Einheit oder zur Eröffnung des neuen Brandenburger Landtags finden hier statt. Rund 50 Konzerte gibt es im Jahr.

In diesem Jahr freut sich die Nikolai-Gemeinde auf zwei Höhepunkte: Den evangelischen Kirchentag Berlin Ende Mai, für den die Nikolaikirche Austragungsort ist und zu dem rund 1500 Übernachtungsgäste und weitere Tausende Besucher in Potsdam erwartet werden. Und die Einweihung der neuen Orgel am 23. September. Die Bauarbeiten laufen momentan, das Gerüst im Innenraum der Kirche ist ein Hingucker der anderen Art. Mit der neuen Orgel, die über Spenden finanziert wurde, enden für die Gemeinde Jahrzehnte der Orgel-Provisorien. „So Gott will und wir in friedlichen Zeiten leben, wird sie mindestens 100 Jahre gespielt werden“, sagt Harald Geywitz und lächelt.

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