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Landeshauptstadt: Die neueste Masche

Nähen, Stricken, Häkeln: Immer mehr Potsdamer entdecken die Handarbeit wieder für sich. Ein Besuch bei den Hobbyschneidern

Im September bekommt Helma Rohrmann ein Enkelkind. Lange war in der Familie auf Nachwuchs gewartet worden. Weil sie sich so sehr auf das Baby freut, will Helma Rohrmann jetzt eine Jacke für ihr Enkel nähen. „In neutralen Farben, wir wissen noch nicht, ob es ein Mädchen oder Junge wird“, sagt sie. Aber die 71-Jährige hat lange nicht mehr an der Nähmaschine gesessen, für das Schneiderprojekt braucht sie Hilfe. Im Stoffladen „Texstile“ in der Jägerstraße besucht sie deshalb einen Nähkurs.

Stricken, häkeln, nähen: die Angebote für Handarbeitskurse mehren sich, in Potsdam erlebt die Arbeit mit Nadel, Faden & Co derzeit eine Renaissance. „Sich mit Handarbeiten zu beschäftigen ist seit einigen Jahren wieder sehr populär“, bestätigt Antje Gühne-Poprowa. Vor einem halben Jahr eröffnete die Textilzeichnerin und Textildesignerin in der Jägerstraße ihren Stoffladen, in dem auch Kurse stattfinden. Und die sind gut besucht. „Bis vor Kurzem waren Strickpullis altbacken, jetzt wird alles ausprobiert“, sagt die Textildesignerin. Sie vermutet, dass die Suche nach der eigenen Kreativität und nach dem Arbeiten mit textilem Material eine Gegenbewegung zur zunehmenden Virtualisierung der Welt sei. „Man möchte etwas bewusst berühren, sinnlich erfassen mit den Händen und auch den Augen“, sagt sie.

Mindestens 800 verschiedenen Stoffe gibt es in dem Laden zu kaufen, dazu Nähbedarf, Nähmaschinen und Maschinenzubehör. Im Seminarraum finden wöchentlich mehrere Kurse statt: Nähen für Kinder und Erwachsene, Anfänger und Fortgeschrittene. Auch die Patchworktechnik kann man dort lernen. Besonders beliebt sind offene Kurse. Wer ein Projekt vorhat, kann im Laden unter Anleitung und mit Hilfe arbeiten. Das beginnt mit der Idee: Anna Granacher zum Beispiel will für ihre zwei kleinen Töchter Kleider nähen, eine Zeichnung hat sie mitgebracht. In der Nähschule werden zunächst Stoffe und Bänder ausgesucht – was passt zum Schnitt und gefällt am Ende auch dem Kind?

„Viele Frauen nähen Kindersachen, die dann eben kein anderer hat“, sagt Antje Gühne-Poprawa. Aber auch Röcke und Kleider entstehen bei ihr, und selbst Männer kommen, um Hosen zu kürzen. Ansonsten sind Männer eher in der Unterzahl, wenngleich durchaus interessiert. Sie nähen meist kleine oder praktische Dinge für den Haushalt, Kissenhüllen oder Tischdecken. Bei solchen weniger komplizierten Projekten haben auch Anfänger schnell Erfolgserlebnisse, sagt Antje Gühne-Poprowa: Kleine Taschen oder Schals werden schnell fertig und können gleich beim ersten Mal mit nach Hause genommen werden.

Handarbeitswerkstätten gibt es in Potsdam einige. Das Babelsberger „Naehgern“ in der Großbeerenstraße behauptet sich mittlerweile seit drei Jahren. Erst vor einem halben Jahr musste es umziehen, ein Haus weiter in größere Räume. „Unser Konzept wurde von Anfang an gut angenommen“, sagt Mitinhaberin Kerstin Gerlach. Die 26-Jährige hat Modedesign studiert, jetzt gibt sie Handarbeitskurse. Bis zu drei am Tag finden in dem Näh-Café statt, Kleider nähen, Lampenschirme herstellen, sticken, häkeln, stricken. Manchmal wird in einem Raum genäht, im anderen entstehen zeitgleich Patchworkarbeiten. Das „Naehgern“, ein Eckladen, das einst eine typische Feierabendkneipe war, ist für viele Besucher auch geselliger Treffpunkt. Hier wird Kaffee getrunken, es gibt Quiche oder Käsekuchen an gemütlichen Holztischen.

„Man trifft hier Leute mit den gleichen Interessen“, sagt Nicole Seeligmüller. Seit einem Jahr ist sie regelmäßig dabei und hat im Näh-Café sogar ihre Freundin kennen gelernt. Von ihrer Mutter, einer gelernten Schneiderin, erbte sie das Interesse an dem Handwerk und lernte Grundkenntnisse. Im Näh-Café hat sie schon Bekleidung für sich selbst genäht, ihre Wohnzimmervorhänge, im Winter Weihnachtsgeschenke. Nach ihrer Arbeit am Schreibtisch sei das ein schöner Ausgleich.

Auch Marion Lange findet es gut, nach Feierabend beim Werkeln abschalten zu können. Zu DDR-Zeiten habe sie viel genäht, und immer mit der Hand, sagt sie: „Wir haben damals alles verwertet, aus Herrenunterhemden angesagte Schlabber-T-Shirts gemacht, die es nirgendwo gab. Man trägt etwas Selbstgenähtes auch gleich mit mehr Respekt“, sagt Marion Lange. Nach einigen Jahren Pause hat sie mit ihrem Hobby wieder angefangen und lernt jetzt mit Nähmaschinen umzugehen. Vielleicht meldet sie sich auch zum nächsten Wochenend-Kurs an. Viermal im Jahr werden die Nähmaschinen für eine Landpartie zu einem Gutshaus in Mecklenburg eingepackt.

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