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Die Nacht von Potsdam: Der Fried-Hof

Die meisten Opfer der Bombennacht wurden auf dem Neuen Friedhof in der Heinrich-Mann-Allee beerdigt. Bis heute ist das Gräberfeld ein besonderer Ort des Erinnerns, gerade weil nach der Wende jede Grabstelle einen Granitstein mit dem Namen, soweit bekannt, bekam. Die Toten wurden aus ihrer Anonymität geholt.

Zum Gräberfeld der Opfer jener Bombennacht geht es leicht bergauf. In prächtigen Blütenkissen am Wegrand summen Insekten, vom Kletterpark jenseits der rechten Friedhofsbegrenzung dringen Kinderstimmen, die Straßengeräusche entfernen sich langsam. Es ist schön hier, das darf man von einem Friedhof ruhig sagen. „Warten Sie, bis der Rhododendron blüht“, sagt Friedhofsleiter Gunther Butzmann.

Plötzlich fällt der Blick auf eine einheitlich gestaltete Fläche. Hunderte Grabsteine stehen in Reih und Glied, die alten Bäume hier lockern die Symmetrie etwas auf. Hier darf man den weichen, bemoosten Rasen betreten, an den Steinen entlangschreiten, stehenbleiben, lesen. Denn die Kriegstoten hier tragen meist Namen: ganze Familien, Ehepaare, Mütter mit Kindern wurden hier begraben. Daneben viele unbekannte Opfer, Soldaten, Flüchtlinge, Zwangsarbeiter. Viele waren in Potsdam gar nicht angemeldet in jenen schlimmen, chaotischen letzten Kriegswochen.

„Die Leichen wurden teilweise in Säcken eingewickelt herangekarrt."

Allen hier Begrabenen ist gemein, dass sie in jener Bombennacht am 14. April 1945 zu Tode kamen oder wenige Tage später ihren Verletzungen erlagen. Insgesamt sind es 1311 Tote, davon 578 Namenlose. „Zwei unbekannte deutsche Soldaten“, heißt es dann auf dem Grabstein oder „sechs unbekannte Kinder“.

„Die Leichen wurden teilweise in Säcken eingewickelt herangekarrt, das war ja eine Zeit der absoluten Not“, sagt Butzmann. Aus Zeitzeugenberichten weiß man ein wenig darüber, wie Potsdam nach dieser schrecklichen Nacht seine Toten begrub. „Alles, was laufen konnte, war im Krieg, im Volkssturm“, sagt Butzmann. „Also begruben die Frauen die Toten.“

Es sei erstaunlich, dass in diesem Chaos alles dennoch so strukturiert und gut dokumentiert ablief. Im Sterberegister der Stadt, das Butzmann noch immer handschriftlich pflegt und ergänzt, weil er die Sterbedaten nicht ausschließlich modernen Speichermedien anvertrauen will, wurden auch damals die Daten zu den Verstorbenen festgehalten – was man eben so wusste von den Opfern, die man aus den Trümmern klaubte. Aus dem Belegungsplan des Begräbnisfeldes ist genau ersichtlich, wer wo liegt, in welcher Reihe, an welchem Platz. „Ist oberirdisch nicht zu erkennen, wo genau eine Grabstelle ist, muss man abmessen und rechnen. Ist alles genormt“, sagt Butzmann.

Viele Menschen erstickten in den Luftschutzräumen.

Immer wieder bekommt er Anfragen, von Angehörigen, die jemanden suchen. Die über die Deutsche Kriegsgräberfürsorge oder das Deutsche Rote Kreuz nach Potsdam verwiesen wurden. Manchmal begleitet Butzmann sie dann auf den Friedhof. Nicht immer sind es Menschen, die diejenigen, die hier liegen, noch persönlich gekannt haben. Mehr und mehr ist es die nachwachsende junge Generation, die sich für ihre Familiengeschichte interessiert, Stammbäume aufbaut. In Potsdam nach Puzzleteilen sucht.

Es ist heute nicht mehr sicher zu sagen, wie viele Menschen damals wirklich zu Tode kamen. Gezählt wurde ohnehin nur, wer auf einem gemeinsamen Gräberfeld in der Stadt Potsdam die letzte Ruhe fand. Manche wurden in bereits bestehenden Familiengrabanlagen beigesetzt, auf Friedhöfen in Babelsberg und kleinen angrenzenden Gemeinden. Mindestens 2000 könnten es sein, schätzt Butzmann. Und erzählt, dass man selbst Jahre später, beim Abräumen der Ruinen, noch auf menschliche Überreste in zusammengefallenem Mauerwerk stieß. Viele Menschen erstickten wohl damals in den Luftschutzräumen.

Hauptzielort war am 14. April 1945 der Bahnhof, hier explodierten zwei voll beladene Munitionszüge, ein Lazarettzug wurde komplett zerstört. 70 Patienten und vier Krankenschwestern starben, als im Krankenhaus Bomben einschlugen. 28 Zwangsarbeiter aus Polen und Frankreich kamen um, als die Arado-Flugzeugwerke getroffen wurden. Selbst der Alte Friedhof auf der bahnhofsnahen Seite der Heinrich-Mann-Allee wurde von Fliegerbomben verwüstet. Bis heute finden sich in den uralten Bäumen eingewachsene Granatsplitter.

Nach der Wende wurden die Gräber der Kriegstoten neu registriert

Der Neue Friedhof, in Betrieb genommen 1866, nahm die neuen Verstorbenen auf. Berührend ist es, die Inschriften auf den Granitsteinen, die 1994/94 hier aufgestellt wurden, zu lesen. Manchmal war nur der Nachname bekannt, manchmal wusste man sogar das genaue Geburtsdatum. Ganze Familien, Eltern, Kinder, Hausgemeinschaften liegen hier. Nachbarn brachten sie her, manche Leichname seien bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt gewesen, sagt Butzmann.

Nach der Wende wurden in ganz Deutschland die Gräber der Kriegstoten neu aufgenommen und registriert. Laut Gräbergesetz der BRD ist der Bund verpflichtet, diese Grabanlagen auf ewig zu erhalten und zu pflegen. Mit den schlichten Granitsteinen bekam das Grabfeld ein einheitliches Aussehen, das auf das gemeinsame Schicksal, die gemeinsame Identität, hinweisen will. Die Inschriften zeigen, dass es sich hier um individuelle Menschen handelt. Das macht den Ort zu einem Ort authentischer Erinnerung. Es sind nicht irgendwelche Opfer und Kriegstote – es waren einst Nachbarn, Eltern, Kinder. Die meisten von ihnen waren in Potsdam zu Hause.

Um den 14. April kommen besonders viele Besucher

1973 wurde am Rand des Gräberfelds ein Denkmal errichtet, eine mannshohe Arbeit von Lutz Liß aus der Steinmetz-PGH Beelitz. „Dem Gedenken der Opfer des Bombenangriffs vom 14. April 1945“, lautet der umlaufende Spruch unter stilisierten Flammen und Mauersteinen. Der Granit ist leicht verwittert, wird aber, ebenso wie die Grabsteine, jährlich gereinigt. Gerade ältere Angehörige zeigen sich oft dankbar, dass die Anlage so gut gepflegt wird, sagt Butzmann.

In den Tagen um den 14. April kommen besonders viele Besucher. Sie bringen Blumen mit, manche legen Kieselsteine auf die Gräber. „Natürlich weiß ich, wo die Gedenkstätte ist, da laufe ich immer vorbei“, sagt eine Friedhofsbesucherin. Jetzt im Frühling ist das Gelände fast einladend für Spaziergänger, die vielleicht gerade den Kletterpark oder Wissenschaftspark besucht haben. Durch die südwestliche Pforte kann man den Friedhof vom Telegrafenberg aus betreten und an Potsdams Geschichte vorbeilaufen.

Dieser Artikel erschien bereits in einer Sonderausgabe zur Nacht von Potsdam am 11. April 2015.

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