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Hans-Ulrich Kiltz mit dem Bildband, an dem er als Protagonist von damals selbst mitgewirkt hat. 

© Ottmar Winter

Die mutigen Männer von Groß Glienicke: "Wir haben auf Dialog gesetzt"

Ein bemerkenswertes Buch erzählt von der politischen Wende in dem früheren Grenzdorf. Ein Mediziner und ein Theologe drehten dort entschlossen mit am Rad der Geschichte.

Von Carsten Holm

Potsdam - Am Nachmittag des 10. Oktober 1989 beginnt in der kleinen DDR-Gemeinde Groß Glienicke im Potsdamer Norden die Geschichte des Aufbegehrens von zwei mutigen Männern gegen den Staat. Hans-Ulrich Kiltz, seit 1973 Hausarzt und als Leiter des sogenannten Landambulatoriums für die Versorgung der Dorfbewohner zuständig, ruft Hans-Christian Diedrich an, den Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde. Er müsse ihn „unbedingt und sofort“ sprechen, sagt er. Wenige Minuten später ist er im Gemeindehaus, etwas aufgeregt, aber von großer Entschlossenheit.

Tag für Tag wird das Bollwerk der Staatsmacht in jener Zeit brüchiger. Mehr als 100 Festnahmen am 7. Oktober bei einer Demonstration in Potsdam. Brutales Niederknüppeln von Demonstranten am selben Tag in Berlin. Und am 9. Oktober 70 000 Menschen bei der Montags-Demo in Leipzig. „Jetzt müssen auch wir in Groß Glienicke etwas unternehmen“, sagt Kiltz zu Diedrich.

Der Mediziner und der Theologe gehören zu einer überschaubaren Gruppe von staatskritischen Bürgern unter den rund 1600 Einwohnern des Grenzdorfs, das erst 2003 von Potsdam eingemeindet wird und inzwischen knapp 5000 Bürger zählt.

Die Keimzelle des unabhängigen Bürgerkomitees

Kiltz und Diedrich haben sich mit dem Staat arrangiert. Nur dann und wann gibt es „diesen sehnsüchtigen Blick nach Drüben“, erinnert sich Kiltz, „dort, wo die Mauer ihn zuließ, die sich direkt durch die Gärten einiger Seegrundstücke zog“. Kiltz und Diedrich laden für den 20. Oktober Bürger ins Pfarrhaus ein, es entsteht die Keimzelle des unabhängigen Bürgerkomitees von Groß Glienicke – für DDR-Verhältnisse eine ziemliche Ungeheuerlichkeit.

Über dessen Geschichte, deren größter Erfolg wohl die dauerhafte Öffnung der Grenze zum West-Berliner Ortsteil Kladow am 30. Januar 1990 ist, hat der Heimatbuchverlag Brandenburg jetzt eine beeindruckende Dokumentation herausgegeben. „Plötzlich diese Befreiung“ lautet der Titel des 60-seitigen Fotobands, Autoren sind der 2008 verstorbene Pastor Diedrich, Kiltz und Winfried Sträter, Ortsvorsteher und Redakteur beim Deutschlandfunk Kultur.

Am 24. Dezember 1989 ist die Grenze zum West-Berliner Ortsteil Kladow erstmals kurzzeitig offen. 
Am 24. Dezember 1989 ist die Grenze zum West-Berliner Ortsteil Kladow erstmals kurzzeitig offen. 

© Repro: Ottmar Winter

Das Trio hat ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte vorgelegt. Diedrich und Kiltz haben miterlebt, wie gnadenlos die SED die hehre Idee des Sozialismus’ im Mikrokosmos von Groß Glienicke implantierte. Diedrich wird Zeuge der „Feldzüge“, die der Staat gegen seine Kirchengemeinde führt.

Wie eingemauert sind die Bürger an der Grenze, und nur ein einziges Mal tut sich im Leben des Landarztes Kiltz ein Schlupfloch im sogenannten antifaschistischen Schutzwall auf. Er erzählt den PNN davon: 1986 stellt er den Antrag, eine in Salzburg lebende Tante zum 75. Geburtstag besuchen zu dürfen. Völlig überraschend darf er fahren – ohne seine Frau und die beiden Söhne allerdings.

Die Rückkehr aus dem Westen

Packend erzählen der heute 80-jährige Kiltz und seine gleichaltrige Frau Irene in ihrem Haus auf den Hügeln von Groß Glienicke von den dramatischsten Tagen ihres Lebens. „Wir haben lange Diskussionen darüber gehabt, ob ich drüben bleiben sollte“, sagt Kiltz. Als er schon unterwegs ist, findet er im Gepäck einen Brief seiner Frau. „Sie hat mir freie Fahrt gegeben“, sagt Kiltz, noch immer gerührt: „Ich sollte mich frei entscheiden, im Westen zu bleiben oder nicht, obwohl ihr das sehr, sehr schwer gefallen ist.“ Langsam nickt Irene Kiltz dazu.

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Mühelos hätte der Arzt dort eine neue Existenz aufbauen können, seine Frau aber hätte das Haus verloren, das ihm der Staat für seine Praxis vermietete. Und ein Ausreiseantrag für sie und die Söhne wäre, wenn überhaupt, wohl erst nach Jahren genehmigt worden. Aber Kiltz kehrt nach Groß Glienicke zurück. Das Ehepaar, das in Bad Liebenwerda zusammen eingeschult wurde und gemeinsam das Abitur bestand, ist inzwischen seit 52 Jahren verheiratet.

Engagierte Bürger enttarnten eine Vielzahl von geheimen Stasi-„Objekten“ im Grenzdorf Groß Glienicke.
Engagierte Bürger enttarnten eine Vielzahl von geheimen Stasi-„Objekten“ im Grenzdorf Groß Glienicke.

© Repro: Ottmar Winter

Mit taktischer Raffinesse, als seien sie durch lange politische Erfahrung geschult, bereiten der Arzt und der Pastor ihr Aufbegehren vor. Am 20. Oktober 1989, beim ersten Treffen der Bürger im Pfarrhaus, wird eine Liste mit 15 Forderungen zusammengestellt. Ganz oben: freie, geheime Wahlen, auf Platz zwei Wegfall des Wehrkundeunterrichts, gefolgt vom Wehrersatzdienst. Aus heutiger Sicht vielleicht überraschend: Auf Platz neun erst die Forderung nach einem Reisegesetz, auf Platz zehn die „Ehrlichkeit in den Medien“.

Die DDR ist längst ins Taumeln geraten. Am 18. Oktober ist Staats- und Parteichef Erich Honecker zurückgetreten, am 7. November wird ihm der DDR-Ministerrat folgen, die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit zeichnet sich ab.

"Wir haben auf Dialog gesetzt"

Die Spannung vor der ersten Versammlung der Einwohner am 4. November im Gemeindesaal ist groß. Denn der Pfarrer und der Doktor haben auch die staatstragende Nomenklatura eingeladen: Die Spitze der SED, Volksarmisten, Stasi-Leute. Die Taktik geht auf, es wird ein Bürgerkomitee gebildet. „Wir wollten keine Konfrontation, wir haben auf Dialog gesetzt“, sagt Kiltz heute, „wir wussten ja nicht, dass fünf Tage später die Mauer fallen würde“.

Als das geschieht, wirkt Groß Glienicke „wie ausgestorben“. Das Ehepaar Kiltz bricht am nächsten Tag nach West-Berlin auf, Zehntausende waren schon in der Nacht unterwegs. Der Arzt hat beim Einschlafen das Gefühl, „dass ein Albtraum vorbei ist“.

Das Bürgerkomitee hilft mit, die Krake Stasi zu enttarnen. Im kleinen Groß Glienicke gibt es eine Vielzahl von geheimen Stasi-„Objekten“: das „Haus am See“ am Sacrower See etwa, in dem das heutige „Restaurant Landleben“ residiert, das „Gästehaus“ der „Juristischen Hochschule“ am Ende der Tristanstraße, Bungalows und konspirative Wohnungen wie an der Wilhelm-Pieck-Allee 12, der heutigen Sacrower Allee. Dort trafen sich Spitzel, „Inoffizielle Mitarbeiter“, mit ihren Führungsoffizieren. Aus dem „Gästehaus“ wird ein Kindergarten, heute gibt es dort die „KiTa Spatzennest“.

Das "Haus am See".
Das "Haus am See".

© Repro: Ottmar Winter

Am 15. November, während der ersten öffentlichen, vom Bürgerkomitee begleiteten Ratssitzung in der Gaststätte „Zum Hechtsprung“, wehren sich die alten Kräfte, spürbar wird, so Kiltz, deren „verzweifelte Ohnmacht“. Doch es ist nur noch das letzte Zucken eines Systems, das längst dem Tod geweiht ist.

Es geht Schlag auf Schlag: Bei einem Bürgergespräch am 24. November in der Groß Glienicker Schule sagt der furchtlose Bürger Dr. S.: „Sozialismus hat in der DDR keine Chance.“ Der Bürger Z. fordert: „Kontrollmechanismen müssen funktionieren: Journalismus.“

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Der größte Schritt ist getan. DDR-Bürger wagen es, ihren Staat öffentlich in Frage zu stellen. Dem Bürgerkomitee mangelt es nicht an Themen: der Abriss der Mauer wird geplant, die Volkskammerwahl am 18. März 1990 vorbereitet. Von 1296 Wahlberechtigten geben 30,8 Prozent ihre Stimme für die SPD ab, 30,3 Prozent für die SED-Nachfolgepartei PDS und 21,4 für die CDU ab. Bündnis 90 fährt 5,1 Prozent ein. Wegen der maroden Wirtschaft, schreibt Kiltz, wachse „der Wunsch nach einem einheitlichen deutschen Staat.“

Dorfpolizist legt in Kiltz' Praxis eine Beichte ab

Am 6. Mai 1990 findet die erste und zugleich letzte demokratische Kommunalwahl statt. 35,4 Prozent votieren für die SPD, 30,2 Prozent für die PDS, 25,4 für die CDU - und, ein Unikum, 4,17 Prozent für die Freiwillige Feuerwehr, die kandidiert hatte.

Vieles, wofür das Bürgerkomitee seit 1989 gekämpft hatte, wird Wirklichkeit: ein Grenzübergang in Groß Glienicke, der Abriss der Mauer, Bürger werden an Entscheidungen der Kommune beteiligt. Das Bürgerkomitee hat seine Schuldigkeit getan, es löst sich auf.

Heute kann Hans-Ulrich Kiltz über manches schmunzeln, das einst schwer erträglich war. So legte ein ehemaliger Dorfpolizist nach der Wende in seiner Praxis eine Beichte ab: Viele Jahre habe er auf Geheiß der Stasi viel Zeit im Wartezimmer verbracht. Sein Auftrag: Belauschen, worüber Patienten sich unterhielten. Kiltz vergab ihm.

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