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Landeshauptstadt: Der Einspruch der Architekten

Am Tag vor der Sprengung des Potsdamer Stadtschlosses: 15 Mitarbeiter des VEB Hochbauprojektierung schicken ein Protest-Telegramm an DDR-Präsident Wilhelm Pieck und nach Paris und Moskau. Angst haben sie nicht. Auch nicht, als die Kampfgruppe mit Maschinenpistolen aufmarschiert

Alle schwiegen. Alle? Nicht alle! Der Abriss des historischen Bauerbes wurde in der DDR keinesfalls so widerspruchslos hingenommen, wie mitunter angenommen. Nun ist ein Potsdamer Fall individuellen Widerspruchs bekannt geworden, der seinerzeit Kreise zog. Es ist das Jahr 1959, das Kriegsende liegt noch nicht lange zurück, es herrscht Aufbaustimmung und die Hoffnung, etwas völlig Neues zu errichten. Im VEB Hochbauprojektierung Potsdam arbeiten viele junge Architekten und Ingenieure, oft keine 30 Jahre alt. Die Generation der 40-Jährigen fehlt, sie ist im Krieg geblieben. Geplant werden in dem 350-Mitarbeiter-Büro im heutigen Rechnungshofgebäude alle Hochbauten im Gebiet des heutigen Land Brandenburg und darüber hinaus. „Wir haben Tag und Nacht gearbeitet“, berichtet einer, der dabei war. Der Beton fließt in Strömen, doch das bedeutet nicht, dass den jungen Hochschulabsolventen die überkommende historische Bausubstanz völlig schnuppe ist.

Im Gegenteil. Am 6. November 1959, dem Tag vor der ersten Sprengung der Potsdamer Stadtschlossruinen, protestieren 15 Architekten und Ingenieure mit einem Telegramm nicht nur an Wilhelm Pieck, den ersten und einzigen Präsidenten der DDR, an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, ein Herr namens Rutschke, und den Präsidenten der Deutschen Bauakademie, Professor Liebknecht, gegen den geplanten Kulturfrevel. Der gleichlautende Text geht via Telegramm auch an die Akademie der Wissenschaften in Moskau, den ehemaligen Außenminister der Republik Frankreich, Georges Bidault, sowie die Akademie der Künste in Paris. Der Text der politisch äußerst brisanten Depesche lautet exakt: „das ehemalige stadtschloss potsdam soll morgen gesprengt werden. wir 15 architekten und ingenieure der brigade c des veb hochbauprojektierung potsdam protestieren gegen diese ueberstürzte massnahme. uns ist keine stadtplanung bekannt, die den abriss des schlosses rechtfertigte. wir sehen in diesem abriss die zerstoerung eines baukuenstlerischen ensembles.“

Einige der Mutigen aus der Brigade C sind bereits gestorben, andere wohnen nicht mehr in Potsdam. Vier von ihnen jedoch trafen sich dieser Tage am Alten Markt vor dem als neuer Brandenburger Landtag wiederentstehenden Potsdamer Stadtschloss. Es sind Horst und Gisela Görl – sie hieß damals noch Bruns – sowie Günter Vandenhertz und Herbert Posmyk. „Wir haben tatsächlich gedacht, es könnte im letzten Moment noch etwas bewirken“, erinnert sich die 78-jährige Gisela Görl. Obwohl sie und ihre Kollegen als Ordner eingeteilt sind, gehen sie nicht hin. „Wir wollten nichts sehen von der Sprengung.“

Herbert Posmyk erinnert sich an die großen Augen der Telefonisten im Postamt am Luisenplatz, als Gisela Görl und er ihr den Telegramm-Text vorlegen. Ein Telegramm an Wilhelm Pieck hatte die Postfrau nicht jeden Tag entgegenzunehmen und schon gar nicht mit einem derart kritischen Inhalt. „Sie hat eine Kollegin rangeholt, ist mit ihr nach hinten verschwunden. Dann kam sie wieder und nahm das Telegramm auf“, berichtet Herbert Posmyk. Das Telegramm an die ausländischen Adressaten verschickte Posmyk am gleichen Abend von einem Postamt in Berlin-Charlottenburg aus, wohin er mit der S-Bahn und einer 20-Pfennig-Fahrkarte gelangte. „So ein großer Text“, stöhnte Posmyks Bruder, der als Westberliner zwar D-Mark verdiente, aber davon nicht viel. Posmyk: „Er hat es dann bezahlt, ich war ja dazu nicht in der Lage“. Der Umtauschkurs der DDR- zur D-Mark lag damals bei eins zu sechs.

Die Mitarbeiter des VEB Hochbauprojektierung in der Dortustraße 33/34 diskutieren den drohenden Abriss der Stadtschlossruine nach dem Mittagessen beim Gang über die Plantage oder nach Feierabend. Auch wenn nicht alle Kollegen den kritischen Telegramm-Text unterschreiben wollen – Angst hat Gisela Görl nicht. Vielleicht sei das ihrer damaligen Naivität geschuldet, meint sie. Aber im Grunde kennt jeder Potsdamer das Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in der Lindenstraße – weil Passanten dort die Straßenseite wechseln müssen. Herbert Posmyk erklärt: „Man musste gewisse Dinge zu Hause schon geklärt haben“. Der Ingenieur und Statiker rechnet mit Hausdurchsuchungen.

Was die vier Bauspezialisten heute wissen: Die Reaktion der Staatsmacht, die ihr Telegramm auslöste, ist nicht nur deshalb nicht so heftig, weil die Bauspezialisten dringend gebraucht werden. Vielmehr kennen die Genossen nur die Telegramme an Pieck und Konsorten; nicht aber die an die internationalen Adressen. „Das wäre ansonsten schlimm geworden“, fürchtet der Architekt Vandenhertz. Erst heute ist bekannt, dass sich die Moskauer Akademie an den Chef des DDR-Denkmalschutzes in Berlin wandte, „aber der war auf unserer Seite“, sagt Herbert Posmyk. Der Tenor der Intervention aus der Hauptstadt der Siegermacht: „Wir bauen in Leningrad (St. Petersburg) unsere Schlösser wieder auf und ihr reißt sie ab ...“ Dass die sowjetischen „Freunde“ die SED-Abrissbirnen nicht unbedingt begrüßen, zeigt ein anderes Beispiel: Schon beim Bau des Ernst-Thälmann-Stadions im Lustgarten 1956 bedienen sich die Erbauer der sozialistischen Stadt in den Farben der DDR schamlos an den Sandsteinplatten der Stadtschlossruine – bis der sowjetische Stadtkommandant diese Praxis beendet. Als aber am 12. Mai 1959 das Zentralkommitee der SED in Gestalt ihres Vorsitzenden Walter Ullbricht anweist, die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung habe einen Beschluss zum Abriss des Stadtschlosses herbeizuführen, ist das Schicksal des Residenzschlosses Friedrich des Großen besiegelt.

Die beiden jungen Architekten Günter Vandenhertz und Horst Görl wollen nicht nur kritisieren, sondern auch konstruktiv sein. Daher schlagen sie vor, das Stadtschloss als Hotel wieder aufzubauen – keine abwegige Idee, „denn eine Touristenstadt war Potsdam ja immer“, sagt Vandenhertz. Die großflächigen Zeichnungen, die die beiden damals anfertigen, besitzen sie heute noch. In die fünf Meter hohen Räume ist jeweils eine zweite Ebene zum Schlafen eingezogen, vergleichbar mit einem Hochbett. Die Bauakademie findet den Vorschlag „interessant“, merkt aber an, dass sie das nicht zu entscheiden habe. Die Potsdamer Stadtverwaltung reagiert erst gar nicht auf den Vorschlag.

Die Einladung vom Rat des Bezirkes, „mit allen Architekten und Ingenieuren der Brigade C eine Aussprache zu führen“, kommt recht harmlos daher. 19. November 1959, 8 Uhr, Zimmer 89 des Gebäudes, in dem heute Brandenburgs Ministerpräsident residiert. „Ich bitte Sie, an dieser Aussprache teilzunehmen“, schreibt Ratschef Rutschke. „Angst hatten wir nicht“, erinnert sich Herbert Posmyk. Als die Renitenten den Plenarsaal betreten, sehen sie einen langen Podiumstisch, an dem alle sitzen, die in Potsdam was zu sagen hatten, einschließlich Oberbürgermeister Rescher und Ratschef Rutschke. Dessen Vorname? „Der hieß Genosse mit Vornamen“, sagt Vandenhertz. Auf dem Protokoll dieser Sitzung sind alle Namen der Delinquenten aufgeführt, an erster Stelle steht „Fandenherz“, in dieser Schreibweise, dahiner der handschriftliche Zusatz „Spiritus rector“.

Zwei Stunden wird geredet, diskutiert, die 15 von Potsdam vertreten ihre Meinung. Da geht plötzlich die Tür auf und ein Trupp der Kampfgruppe betritt den Saal, Arbeiter in Uniform – mit roter Fahne und umgehängten Maschinenpistolen. Herbert Posmyk erinnert sich noch gut an das typische Trommelmagazin des russischen Fabrikats. Die Bewaffneten nehmen im Rücken der Abrisskritiker Aufstellung. „Eine Drohgebärde“, sagt Günter Vandenhertz, „die müssen das vorher organisiert haben“. Damit ist die fachliche Diskussion beendet und klargestellt, wer im Arbeiter-und-Bauern-Staat die Macht hat. Posmyk erinnert sich noch an den Schlusssatz der Veranstaltung: „Wir untersagen Ihnen jedwede Diskussion über das Stadtschloss. Und wenn nicht, werden wir Mittel und Wege finden, sie zum Schweigen zu bringen.“

Zu den Folgen des Telegramms gehört auch, dass Vandenhertz’ Tochter zunächst keine Zulassung für die Erweiterte Oberschule (EOS) erhält. Die kommt aber postwendend einen Tag, nachdem Vandenhertz 1969 als Chefarchitekt den Wettbewerb für den Alten Markt gewonnen hatte. Den Standort des Stadtschlosses lässt sein Entwurf unbebaut; der Platz für einen späteren Wiederaufbau bleibt. Lange nach der Wende 1989 greift Vandenhertz erneut in die Stadtschlossgeschichte ein: Neue Entwürfe aus seiner Hand, entstanden im Rahmen seiner Arbeit im Beirat Potsdamer Mitte, zeigen einen Plenarssaal im Innenhof – das Stadtschloss als Landtag. Dank Günter Vandenhertz wird diese Idee denkbar.

Nun steht der 86-jährige Architekt mit den anderen drei Mitstreitern, mit Horst und Gisela Görl und Herbert Posmyk, vor der fast vollendeten Knobelsdorff-Fassade des als Landtag wiederentstehenden Schlosses und weiß: Nie aufzugeben hat sich gelohnt.

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