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Mehr als 16 Radler dürfen zusammen auf der Straße radeln.

© H. Catenhusen

"Critical Mass" in Potsdam: Im Schwarm durch die Stadt

Mehr Platz für Radfahrer: Die „Critical Mass“ radelt monatlich durch Potsdam. Unser Reporter hat die Aktion begleitet.

Potsdam - Der Spaß fährt mit – und bei manchem Neuling wohl auch ein kleines bisschen Unbehagen: „Irgendwie ist mir das unheimlich“, sagt eine Frau. Kurz zuvor hat sich am vergangenen Freitagabend ein Fahrradkonvoi vom Potsdamer Luisenplatz aus in Bewegung gesetzt. Etwa 70 Radler fahren gemeinsam durch die Stadt – nicht zahm über die Radwege, sondern dort, wo eigentlich sonst der Autoverkehr rollt: mitten auf den Fahrbahnen Potsdams. Auch die Frau von eben, die eigentlich lieber den Radweg benutzen möchte, fährt trotzdem tapfer mit ihrem Fahrrad auf dem Asphalt der Zeppelinstraße. So ist die Aktion gedacht: Die Pedalritter erobern sich die Straßen zurück. Vom Luisenplatz geht es stadtauswärts. Der Fahrradtross rollt auf der rechten Spur, die Autos fahren links daneben vorbei. Immer wieder hört man Fahrradklingeln schrillen. Jemand hat sogar eine Musikanlage auf seinem Fahrrad deponiert. Der Sound sorgt zusätzlich für Stimmung.

"Zufälliges" monatliches Treffen von Radlfahrern

Es sind Mitglieder der Bewegung „Critical Mass“ („kritische Masse“), die an diesem Abend durch Potsdams Straßen radeln. Oder sollte man sie lieber nicht „Mitglieder“ nennen, sondern „Aktivisten“? Schließlich sind sie in keinem Verein organisiert. Sie treffen sich lediglich „zufällig“ einmal im Monat zum gemeinsamen Radeln, sagt einer. Und zwar immer an jedem letzten Freitag im Monat, außer in den Wintermonaten. Den „Zufall“ organisieren die Aktivisten im Internet über Facebook und über Mundpropaganda. Der Altersdurchschnitt der Teilnehmer liegt an diesem Freitag geschätzt bei knapp unter 30.

Schon nach wenigen Hundert Metern wird die Fahrt besonders interessant: Nachdem die ersten Radler bei Grün über die Kreuzung Zeppelin-/Feuerbachstraße gefahren sind, schaltet die Ampel auf Rot. Doch auch die Aktivisten hinten im Tross fahren weiter – bei Rot. Das sei vollkommen korrekt, wird immer wieder versichert. Die Zweiradaktivisten berufen sich auf Paragraf 27 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Der gesamte Konvoi – wenn er aus mindestens 16 Radfahrern bestehe – sei demnach wie ein einzelnes langes Fahrzeug zu behandeln. Fahre zum Beispiel ein Lastwagen bei Grün in die Kreuzung ein, dann sei es egal, ob die Anhänger nur noch bei Rot über die Ampel kommen. Entsprechendes gelte für eine große Radlertruppe. Dass aber solche Gruppenradfahrer nach der StVO nur zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn fahren dürfen, stört an diesem Abend niemanden.

Kreuz und quer durch Potsdam 

Kreuz und quer geht es durch die Stadt. Ein Straßenbahnfahrer findet die Aktion indes gar nicht lustig und versucht, sich mit seiner Bahn durch den Konvoi zu drängen. Der Versuch misslingt. In Babelsberg blockiert später einer der Aktivisten einen Autofahrer, damit die Radler ungestört durch die Straße fahren können. Ein Hauch von Straßenkampf weht durch die Luft: „Könn’se gern machen“, ruft der Blockierer dem Autofahrer zu. Womöglich hatte dieser zuvor mit der Polizei gedroht. Ach ja, die Ordnungshüter. An diesem Abend sind sie nicht zu sehen. Einer der Rad-Aktivisten, er heißt Paul, erinnert sich an eine frühere Critical-Mass-Fahrt durch Potsdam. Da sollten alle aus der Gruppe ihre Ausweise der Polizei vorzeigen, erzählt der 26-Jährige. Doch kein einziges Dokument bekamen die Beamten zu Gesicht: „Die Ampel ist grün geworden und wir sind alle weitergefahren.“

Seit zwei Jahren mache man diese Fahrten durch Potsdam. An diesem Freitag waren es am Ende wohl um die 80 Teilnehmer, ein paar haben sich spontan angeschlossen – ein Rekord, sagt Paul. „Mehr Platz für Fahrradfahrer“ sei die Botschaft der Aktionen. In vielen Städten weltweit gibt es regelmäßig Fahrten der Critical-Mass-Bewegung.

Den Autos die Straße abjagen

Der Begriff stammt ursprünglich aus der Kernphysik. Die „kritische Masse“ eines spaltbaren Materials wird mindestens benötigt, um die Kettenreaktion der Kernspaltung aufrechtzuerhalten. In welcher Reihenfolge die Atomkerne gespalten werden, ist vorher nicht festgelegt. Auch bei den Critical-Mass-Fahrten ist die Fahrtroute nicht vorherbestimmt. Sie ergibt sich spontan. Es bedarf nur einer gewissen Mindestanzahl an Radlern, um als Gruppe erkennbar zu sein – und so dem motorisierten Blech ein bisschen Straße abzujagen.

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