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Bundestagsabgeordnete Manja Schüle (SPD) im PNN-Interview: „Da stimmt etwas ganz gewaltig nicht“

Junge Abgeordnete wollen mit ihren Thesen die SPD erneuern. Die Potsdamerin Manja Schüle gehört dazu

Frau Schüle, Sie haben gemeinsam mit einer Gruppe junger SPD-Bundestagsabgeordneter vier Thesenpapiere zur Erneuerung der Partei erarbeitet. Ist die SPD denn noch zu retten?

Die SPD steht in Regierungsverantwortung und hat Anfang des Jahres einen beispiellosen Mitgliederzuwachs erlebt. Gleichzeitig haben wir in der Vernunftkoalition mit der zerstrittenen Union eine schwierige Rolle. Diese zu finden und vor allem zu definieren, wo wir hinwollen – darum geht es derzeit. Der Parteivorstand hat dazu einen Diskussionsprozess gestartet, und diesen wollen wir jungen Abgeordneten aktiv mitgestalten.

Alle, die an den Thesenpapieren arbeiten, sind jung. Braucht es für die Erneuerung einen Generationenwechsel?

Wir sind alle neu im Bundestag und unter 42. Vielleicht braucht es nicht unbedingt einen Generationenwechsel, aber mehr Mut und weniger Verzagtheit. Wir haben uns nicht zur Wahl gestellt, um die nächsten drei Jahre leise zu sein.

Sind Ihre Forderungen – Stichwort 35-Stunden-Woche, zwölf Euro Mindestlohn – eine Orientierung nach links?

Sie sind eine Orientierung nach vorne! Weil ich überzeugt bin, dass unsere Vorschläge mehr Gerechtigkeit und Sicherheit für Arbeitnehmer, Kinder, Familien und Ältere schaffen. Wenn das links ist, bin ich eine linke Sozialdemokratin. Ich habe vor allem am Wirtschaftspapier mitgeschrieben: Die momentane wirtschaftliche Situation ist gut, Rekordbeschäftigung, steigende Reallöhne und Milliarden Steuerüberschüsse der öffentlichen Hand. Aber der Aufschwung beruht auch auf externen Faktoren, etwa Exportüberschüsse und Niedrigzinspolitik. Schnell kann es ungemütlich werden: die Europäische Zentralbank könnte ihre Zinsen erhöhen, Donald Trump über Twitter eine neue aggressive Handelspolitik ankündigen – ganz zu schweigen von den Chinesen. Dann wird es schwer für die heimische Wirtschaft. Deshalb müssen wir jetzt aus politischen und ökonomischen Gründen investieren. Die SPD muss dafür sorgen, dass notwendige Investitionen vor allem in den Bereichen öffentliche Infrastruktur, Bildung, Pflege, innere Sicherheit, Verkehr jetzt erfolgen. So wird Wachstum von morgen gesichert. Das kommt allen zugute. Ich pendle mit der S- und Regionalbahn von Potsdam nach Berlin und erlebe da den Begriff Bürgernähe auf ganz spezielle Weise – nämlich in völlig überfüllten Zügen. Das ist das glatte Gegenteil von Zukunftsinvestitionen.

Das klingt nach einem Gegenprogramm zur Union.

Definitiv. Obwohl, selbst da kann man sich nicht sicher sein. Beim Thema Mindestlohn hat die Kanzlerin am Ende des Wahlkampfs gesagt, dass dessen Einführung ihr größter Erfolg war. Da habe ich mir erstaunt Ohren und Augen gerieben. Das ist eine erstaunliche Art von Realitätswahrnehmung. Vor seiner durch die SPD erzwungenen Einführung war der Mindestlohn vor allem für FDP und CDU/CSU der Untergang des Abendlandes.

Geht es auch um die Abgrenzung zu den anderen Parteien?

Ich bin eine überzeugte Sozialdemokratin, aber es geht mir furchtbar auf die Nerven, dass viele meiner Parteikollegen diesen Prozess nur in Abgrenzung zu den anderen Parteien sehen. „Wir dürfen nicht den Grünen oder der Union hinterherrennen“, heißt es dann. Die eigene Stärke werde ich niemals finden in der Abgrenzung zu den anderen, sondern nur aus uns selbst heraus. Es geht um das eigene Profil. Stattdessen gibt es eine Verzagtheit und zuweilen auch Larmoyanz, die mir nicht passt. Ich wünsche mir mehr Haltung und geraden Rücken.

Können Sie Ihre Forderungen in der Großen Koalition umsetzen oder ist die Perspektive langfristiger?

Beides. Natürlich geht es darum, unser Profil zu schärfen. Aber ich werde bis zum Ende der Legislaturperiode nicht müde werden, in der Fraktion dafür zu werben, die schwarze Null nicht als eigenes politisches Ziel zu erachten. Die Menschen haben doch das Gefühl, dass für alles Geld da ist, für die Eurorettung, für die Bankenrettung, aber dass es bei ihnen auf dem Land nicht einmal Breitbandanschluss gibt.

In Brandenburg sind die Umfragewerte der SPD schlecht. Mit welchen Argumenten kann die Partei hier punkten?

Es geht darum, den Menschen zu sagen, wo man sie in den nächsten fünf Jahren hinführen will. Einige unserer Forderungen verfolgt auch die brandenburgische SPD, etwa zwölf Euro Mindestlohn oder Kita-Infrastruktur. Für Brandenburg wünschte ich mir, dass die Wissenschaft und Forschung mehr im Fokus steht. Und auch für Brandenburg muss der Begriff Erneuerung glaubhaft gefüllt werden.

Welche Punkte kann die Potsdamer SPD im Oberbürgermeister-Wahlkampf nutzen?

Eines unserer Themen ist Wohnen als soziale Frage. Das betrifft nicht nur Potsdam, sondern auch die Umgebung, Teltow, Kleinmachnow, Stahnsdorf, wo überall die Preise durch die Decke gehen. Auf diese zentrale Frage muss der Kandidat bei der OB-Wahl eine Antwort haben.

Wie kann diese Antwort aussehen?

Der Bund hilft mit Milliarden beim sozialen Wohnungsbau, einer verstärkten Mietpreisbremse und der Deckelung der Modernisierungskosten. Die Stadt bestimmt ihre Baupolitik. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, für mich sollte genossenschaftliches und kommunales Bauen absolute Priorität haben. Längst geht es nicht mehr nur um sozialen Wohnungsbau. Viele Menschen mit Kindern, bei denen Mutter und Vater arbeiten, haben Probleme eine Wohnung zu finden. Es ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Mike Schubert hat sich dazu schon sehr gut geäußert. Mit viel Freude habe ich die konzertierte Aktion der Landeshauptstadt mit der Pro Potsdam und den Genossenschaften verfolgt, endlich zusammen zu entwickeln. Besonders wichtig ist, dass Genossenschaften bei der Vergabe künftigen Baulands prioritär behandelt werden.

Ein roter Faden der Thesenpapiere ist die soziale Spaltung. Diese nimmt auch in Potsdam zu. Wo kann die Politik da ansetzen?

Das Auseinanderdriften hat mit Einkommen zu tun, mit Lebens- und Bildungschancen. In allen drei Bereichen kann die Politik etwas tun. Beim Einkommen geht das über den Mindestlohn, der Rest ist Tarifautonomie. In Brandenburg verdient ein Drittel der Menschen unter zehn Euro pro Stunde. Laut einer Studie investieren Eltern, die es sich leisten können, 180 bis 250 Euro im Monat pro Kind, etwa für Nachhilfe oder Vereine. Für Kinder mit Hartz-IV-Bezug sind genau zehn Euro pro Monat möglich. Da stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Das verstärkt den sozialen Status.

Kann der Digitalpakt da helfen?

Nachdem es Bildungsministerin Anja Karliczek ehrlich gesagt nicht hinbekommen hat, hat Finanzminister Olaf Scholz angekündigt, dass es 3,5 Milliarden Euro für den Digitalpakt gibt. Aber es bleibt die Frage: Was ist mit Familien, die sich kein Tablet leisten können? Das Motto „Bring dein eigenes Gerät mit“ verstärkt die soziale Ungleichheit. Ich wurde selbst mit meiner Schwester von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen. Ich weiß, wie es ist, wenn die anderen Kinder ein Highschool-Jahr in Amerika oder Großbritannien machen, und man sitzt mit einer langen Nase daneben. Aber ich bin Bundestagsabgeordnete geworden – eine gewisse Durchlässigkeit gibt es also im Bildungssystem.

Das Interview führte Sandra Calvez

Manja Schüle (42) gewann bei der Bundestagswahl 2017 das Direktmandat im Wahlkreis 61 mit 26,1 Prozent und damit das einzige SPD-Direktmandat in einem ostdeutschen Flächenland.

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