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Bürgerengagement: "Wir haben eine Parteienverdrossenheit"

Oliver Wiedmann vom Verein "Mehr Demokratie" über den Erfolg von Volksinitiativen und Petitionen.

Herr Wiedmann, es gibt derzeit eine Reihe von Petitionen, Bürgerbegehren und Volksinitiativen, bei denen die Potsdamer unterschreiben können. Sind es mehr als sonst?
Man muss die Instrumente auseinanderhalten. Bei Bürgerbegehren, also auf kommunaler Ebene, ist kein großer Anstieg zu verzeichnen. Aber auf Landesebene, also bei Volksinitiativen, passiert gerade sehr viel. Vor den Landtagswahlen versuchen viele, ihrer Position so Nachdruck zu verleihen.

Wie viele Volksinitiativen sind das?
Derzeit laufen auf Landesebene sechs Verfahren, davon sind drei in jüngster Zeit gestartet. „Keine Geschenke für die Hohenzollern“ ist eine Initiative der Linken, das ist parteipolitisch und Wahlkampf. „Verkehrswende Brandenburg jetzt“ und „Klimanotstand“ sind zwei Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Für Bürger ist das ein gutes Mittel, um Einfluss auf den Wahlkampf und auf die Koalitionsverhandlungen zu nehmen.

Wie steht Brandenburg im Bundesvergleich da?
Es gibt in Brandenburg generell sehr viele Volksinitiativen, mehr als in vielen anderen Bundesländern. Viele von ihnen haben Erfolg, wie etwa gegen Massentierhaltung. Die haben das Volksbegehren geschafft. Auch mit dem Engagement gegen Tagebau 2007/2008 wurde sehr viel Aufmerksamkeit erregt. Gegen die Kreisgebietsreform wurden sehr viele Unterschriften gesammelt und damit auch Einfluss genommen. Volksbegehren dagegen gibt es nur ein paar, Volksentschiede gar nicht. Und Bürgerbegehren gibt es hier viel weniger als anderswo.

Warum ist das so?
Das Besondere in Brandenburg ist, dass die Bürger bei landesweiten Volksbegehren aufs Amt gehen müssen, um zu unterschreiben. Das wirkt ganz klar als Bremse. Dazu kommen weitere Einschränkungen. So ist bei kommunalen Verfahren der gesamte Themenbereich Bauplanung ausgenommen. Sobald eine Stadt einen Bebauungsplan aufstellt, kommt ein Bürgerbegehren nicht mehr in Frage. Wir fordern deshalb, den Katalog zu öffnen. Gerade Bauthemen mobilisieren oft viele Menschen. Aus diesen Gründen hat es in Brandenburg seit 1956 nur rund 170 Bürgerbegehren gegeben, beim Spitzenreiter Bayern sind es 2500.

Wie ist es mit Online-Petitionen?
Petitionen sind niederschwellig. Während für Initiativen ein umfassendes Regelwerk gilt und sie rechtlich geprüft werden, gilt das bei Petitionen nicht. Auch kann online unterschrieben werden, darin besteht der Charme. Trotzdem kann auch diese Form etwas bewirken.

Zusammengenommen ist die Liste der Unterschriftensammlungen lang. Wie passt das zur beschrienen Politikverdrossenheit?
Wir haben keine Politikverdrossenheit, sondern eine Parteienverdrossenheit. Dazu passt das sehr gut. Viele Menschen wollen sich nicht mehr langfristig in Parteien engagieren, haben keine Lust auf die Ochsentour, sondern möchten sich lieber für eine Sache richtig reinhängen.

Wie können die Parteien auch auf lokaler Ebene darauf reagieren?
Die Parteien sollten sich öffnen gegenüber der direkten Demokratie. Sie sollten anerkennen, dass politische Gestaltung nicht nur über die Parteien geht und dass sich diese Dinge nicht widersprechen. Sie hebeln sich nicht aus, sondern können auch temporär zusammenarbeiten.
Kritiker bemängeln den mangelnden Sachverstand oder die fehlende Weitsicht von Initiatoren. Stimmt das?
Das kann ich nicht bestätigen, diese Kritik ist fehl am Platz. Häufig sind Fachverbände an der Ausarbeitung beteiligt und auch die Menschen sind durchaus in der Lage, sich die Expertise anzueignen. Die Unterstellung, dass etwa finanzielle Folgen nicht bedacht werden, ist nicht gerechtfertigt. Auch die Bürger wissen, dass eine Stadt Gewerbesteuer einnehmen muss. Die Politiker sollten nicht unterschätzen, welche wichtigen Impulse im Gespräch von diesen Initiativen kommen können.

Hintergrund

Potsdamer können derzeit für einen Rückkehr zum Tarifvertrag des Bergmann-Klinikums unterschreiben, für die Artenvielfalt in Brandenburg oder für die Wiedereröffnung des Uferwegs in der Nördlichen Speicherstadt. Bürgerbegehren, Volksinitiative, Online-Petition: Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, über Unterschriftensammlungen seine Meinung zu einem bestimmten Projekt zu äußern. Am wenigsten Hürden bestehen für eine Online-Petition, mit einigen Klicks können Bürger auf Portalen wie openpetition.de oder change.org ihr Thema beschreiben und um Signaturen werben – es gibt aber auch keine Verpflichtung für die Politik, daraus Konsequenzen zu ziehen. Aktuell läuft beispielsweise eine Petition des Landeselternbeirats für Beitragsfreiheit und mehr Qualität in Kitas, fast 7000 haben seit dem 8. August unterschrieben. Für einen „Bruch mit den rechtslastigen und militaristischen Traditionen der Garnisonkirche Potsdam“ haben innerhalb von zehn Tagen rund 1000 unterzeichnet. Für eine Bürgerbeteiligung am Abriss des Kopfbaus der Nutheschlange haben sich seit April rund 700 Unterstützer gefunden, ähnlich viele wie seit Mitte Juli für den Uferweg in der Speicherstadt.

Bürgerbegehren sind ein offizielles Instrument der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene. Dazu gibt es präzise rechtliche Vorgaben. Unterschreiben mindestens zehn Prozent der Bürger einer Stadt, muss die Stadtverordnetenversammlung das Anliegen entweder beschließen oder einen Bürgerentscheid durchführen. Derzeit laufen in Potsdam die beiden Bürgerbegehren zu den Arbeitsbedingungen im städtischen Ernst-von-Bergmann Klinikum. Eine Volksinitiative ist ein ähnliches Verfahren auf Landesebene. Unterzeichnen mindestens 20 000 Brandenburger, muss sich der Landtag mit dem Thema befassen. Lehnt dieser ab, können die Initiatoren per Volksbegehren versuchen, 80.000 Signaturen zu sammeln, dann muss ein Volksentscheid durchgeführt werden. Derzeit laufen ein Volksbegehren, für die Verkehrswende, und fünf Volksinitiativen, darunter „Keine Geschenke für die Hohenzollern“ und für die Ausrufung des Klimanotstands.

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