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Auf diesem Flur in der Residenz „Heilig Geist Park“ hatte der alte Herr sein Zimmer. Trotz strenger Hygieneregeln im Heim haben sich Angehörige offenbar mit Corona angesteckt, als sie ihn kurz vor seinem Tod besuchten. Foto: Andreas Klaer

© Andreas Klaer

Beim Abschied angesteckt: Corona lauerte am Sterbebett

Ein 95-jähriger Bewohner der Heilig-Geist-Residenz infizierte sich mit dem Virus. Als sieben Kinder und Enkel Abschied nehmen wollen, stecken sich fünf an. Was folgt daraus?

Von Carsten Holm

Potsdam - Es ist Montag, der 4. Januar, in der Heilig-Geist-Residenz, einem privaten, schön gelegenen Altenheim gegenüber der Freundschaftsinsel. Die Residenzleitung hat die Angehörigen eines 95 Jahre alten Bewohners angerufen, er habe sich mit dem Coronavirus infiziert. Wenig später heißt es, sein Zustand verschlechtere sich rapide. Vier der fünf Kinder machen sich in Rheinland-Pfalz, in München und in Franken auf den Weg an die Havel, eine Tochter lebt in Potsdam. Zwei der vier Enkel kommen hinzu, alle wollen sich von ihrem Familienoberhaupt verabschieden. Am Ende werden sich fünf der sieben Besucher infiziert haben.

Ihren Namen möchte eine Tochter des Hochbetagten nicht in der Zeitung lesen, aber sie spricht mit den PNN offen über das, was sich trotz strenger Hygienemaßnahmen in dem Seniorenheim offenbar zugetragen hat. „Wir sind uns sehr sicher, dass sich mindestens einer von uns im Sterbezimmer angesteckt und das Virus dann weitergegeben hat“, sagt sie. „Wer es war, wissen wir nicht. Aber wir wollen es auch nicht wissen, weil wir niemandem die Schuld an dem geben möchten, was passiert ist.“

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Ein Vierteljahrhundert hat der alte Mann in Berlin und Potsdam gelebt, die letzten drei Jahre im Altenheim. Er war Historiker, vor langer Zeit betrieb er auch Reinigungen. Er war zufrieden mit seinem langen Leben. Doch als er sich vor eineinhalb Jahren seine Hüfte brach und auf einen Rollstuhl angewiesen war, verdunkelte sich sein Dasein. „Den Rollstuhl empfand er als elendig“, sagt die Tochter, „er baute sehr stark ab und sprach oft davon, nun sterben zu wollen.“

Geschäftsführer Hendrik Bössenrodt
Geschäftsführer Hendrik Bössenrodt

© Andreas Klaer

Als der 95-Jährige positiv getestet worden war, geschah, was immer geschieht, wenn ein Heimbewohner sich infiziert hat: Isolierung in seinem Zimmer auf Anordnung des Gesundheitsamts, mit ihm stellte das Amt auch die übrigen 14 Bewohner der dritten Etage unter Quarantäne. Die Pflegerinnen und Pfleger näherten sich ihm, wie Hendrik Bössenrodt, alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der Residenz, es beschreibt, „mit voller Montur“: Plastikkittel, Maske, Brille. Sicherheitshandschuhe, Haarnetz, Füßlinge. Die Ausbreitung des Virus auf der Etage wurde so verhindert.

Besuche nur im Restaurant möglich

Die Hygienestandards in der Residenz „Heilig Geist Park“ sind hoch. Kernpunkt ist das strikte Verbot von Besuchen auf den vier Wohnetagen des Pflegebereichs, wie es auch die Potsdamer Stadtverwaltung empfiehlt. Besucher können ihre Verwandten im Restaurant unter erheblichen Schutzmaßnahmen treffen, sie betreten es nicht durch den Haupteingang, sondern nur durch die Terrassentür. Besucher, sagte Geschäftsführer Bössenrodt vorige Woche in einem Interview mit den PNN, halte er für „das größte Risiko für ein Infektionsgeschehen“. Er lässt nur zwei Ausnahmen zu: im Fall von Krankheit eines Bewohners oder für die Sterbebegleitung.

Blick über die Freundschaftsinsel auf den Turm der Heilig-Geist-Residenz. Mit der Turmbeleuchtung wurde im vergangenen Jahr ein Zeichen der Hoffnung in den Zeiten von Corona für die Menschen in Potsdam gesetzt.
Blick über die Freundschaftsinsel auf den Turm der Heilig-Geist-Residenz. Mit der Turmbeleuchtung wurde im vergangenen Jahr ein Zeichen der Hoffnung in den Zeiten von Corona für die Menschen in Potsdam gesetzt.

© Sebastian Rost

Strikte Auflagen für den Besuch

Als die Verwandten des Seniors ihn nach und nach in seinem Zimmer aufsuchen, müssen auch sie sich an die Standards halten. Ein Schnelltest – zum Glück ist niemand positiv. Dann hinein in die volle Montur, die gleiche wie sie Pflegekräfte tragen. Und eine kurze Unterweisung: Auf keinen Fall die Schutzkleidung ablegen, auch nicht für einen Moment. Das Fenster während des 30-minütigen Besuchs öffnen, um Aerosolen die Gelegenheit zu geben, hinauszufliegen. Nicht die Druckknöpfe im Fahrstuhl berühren, das machen Pflegerinnen und Pfleger.

Dem alten Mann geht es zunehmend schlechter. Am 12. Januar stirbt er – einen Tag, nachdem in der Residenz die Impfungen aller Bewohner und Mitarbeiter begonnen haben. Seine Tochter erzählt, dass alle, die ihn noch im Zimmer besuchten, „sehr glücklich gewesen“ seien, dass diese Begegnungen überhaupt möglich waren: „Wir hatten das Gefühl, dass unser Vater uns noch wahrgenommen hat.“

Besuche sind in der Einrichtung nur im Restaurant erlaubt.
Besuche sind in der Einrichtung nur im Restaurant erlaubt.

© Ottmar Winter (Archivbild)

Viel zu oft war ein solcher Abschied nicht möglich. Viel zu oft hatten Angehörige von Heimbewohnern in Zeitungen und im Fernsehen weinend geschildert, dass ihnen der Zugang in den letzten Stunden verwehrt blieb und ihre Nächsten einsam sterben mussten. Das Virus, so die Maxime, sollte aus den Zimmern der Infizierten nicht hinausgetragen werden in die Welt.

Was ist am Sterbebett geschehen?

Es ist ein Schock für Kinder und Enkel, aber auch für Residenz-Chef Bössenrodt, als sich ein paar Tage später herausstellt, dass sich fünf Besucher infiziert haben. Es muss etwas passiert sein am Sterbebett, das das Virus überspringen ließ auf einen oder mehrere Familienmitglieder. Aber was? Die Tochter des alten Herrn war Krankenschwester. „Wer keine medizinische Vorbildung hat, weiß nicht, wie man sich in so einem Astronautenanzug richtig bewegt“, sagt sie. „Man trägt zwei Paar Schutzhandschuhe, das Handy klingelt, man streift ein Paar ab und greift in die Tasche. Und da ist vielleicht ein Taschentuch, das man berührt. Oder jemand von uns hat etwas aus dem Zimmer zur Erinnerung mitgenommen. Es kann nur so passiert sein.“ Oder hatte sich nur einer infiziert und die anderen angesteckt, als man beieinander saß, um die Beerdigung zu planen? Die Tochter hatte tagelang Fieber, eines ihrer Geschwister musste sogar ins Bergmann-Klinikum, bei den anderen waren die Verläufe leicht. Inzwischen haben alle fünf die Erkrankung überwunden.

Aber was lässt sich lernen aus diesem Vorfall? 

Ist es verantwortbar, Angehörige von Infizierten allein Abschied nehmen zu lassen, ohne Aufsicht – obwohl Fälle bekannt geworden sind, in denen Besucher sogar ihre Maske abnahmen um ein letztes Mal die Wangen eines Sterbenden zu streicheln? Für Hendrik Bössenrodt gehört es „zu den elementaren Prinzipien einer Sterbebegleitung, die Angehörigen mit dem Sterbenden allein zu lassen“. Er ist sich bewusst, dass diese Haltung das Risiko birgt, dass Besucher unbedacht, sorglos oder fahrlässig sind, sich infizieren und dann auch andere gefährden. Aber, sagt er: „Der Abschied von einem Sterbenden ist etwas so Intimes, dass wir das nicht durch eine Aufsicht belasten oder gar zerstören dürfen. Bei uns wird sich nichts ändern. Ich hoffe nur, dass andere Besucher aus diesem Vorfall lernen.“

Auch die Gesundheitsbeigeordnete Brigitte Meier (SPD), sonst eher Verfechterin einer strikten Umsetzung der Hygienevorschriften, plädiert dafür, dass Angehörige die Möglichkeit haben sollten, „sich allein zu verabschieden. Zum eigenen Schutz sollte dabei, auch wenn es schwerfällt, in jedem Fall eine FFP2-Maske getragen werden“.

Die Tochter des alten Herrn, der in dem Heim gestorben ist, erzählt, wie wichtig es für ihre Familie war, den Vater ein letztes Mal ohne Aufsicht zu sehen: „Es würde die Atmosphäre beim Abschied völlig zerstören, wenn ein Fremder mit im Zimmer wäre.“

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