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Landeshauptstadt: Babymord-Prozess: Voll schuldfähig

Psychiater: Angeklagter mit Eigentümlichkeiten, aber ohne massive Persönlichkeitsstörung

Der Angeklagte im Babymord-Prozess am Potsdamer Landgericht ist voll schuldfähig. Es lägen zwar einige Eigentümlichkeiten vor, aber keine massive Persönlichkeitsstörung, fasste der vom Gericht eingesetzte Berliner Psychiater und Neurologe Alexander Böhle am Donnerstag sein Gutachten über den 37 Jahre alten Ricardo H. zusammen. Unter anderem besitze der Angeklagte narzisstische und theatralische Tendenzen, könne sich kaum in andere Menschen einfühlen und neige zu emotionaler Instabilität sowie zu manipulativen Tendenzen gegenüber Mitmenschen. Eine völlig erwachsene Reife habe H., der unter anderem schon wegen Schlägereien verurteilt worden ist, nicht erreicht, hieß es von dem Gutachter weiter.

Dem medikamentenabhängigen Kurierfahrer wird wie berichtet vorgeworfen, dass er dem kleinen Sohn seiner damaligen Lebensgefährtin am Abend des 29. März 2014 heimlich einen tödlich wirkenden Tablettencocktail verabreichte. Noch in der Nacht starb das Kind in der gemeinsamen Wohnung am Schlaatz – die Vergiftung war erst später nach einer Obduktion des toten Kindes aufgefallen. Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe.

Psychologe Böhle berichtete auch über die Biografie des Angeklagten, ein Leben mit Höhen und Tiefen. So hätten Mutter und Oma den Jungen in seiner Kindheit umsorgt, „durch das verwöhnende Milieu konnte er sich nicht so gut sozial integrieren“. Zugleich hätten sich seine Eltern getrennt, sein leiblicher Vater starb an Alkoholismus, als Ricardo H. 16 war. Ein neuer Partner der Mutter, zu dem auch der Junge ein offensichtlich gutes Verhältnis aufgebaut hatte, verstarb nach einem Unfall – da war H. gerade 21 Jahre alt. Solches Unglück hinterließ offenbar Spuren: Der eigentlich als eifrig beschriebene H. brach in der neunten Klasse die Schule ab. Nachdem später eine erste längere Beziehung – mit einem gemeinsamen Kind – scheiterte, weil er eine Affäre hatte, sei der Angeklagte mehr und mehr dem Alkohol verfallen, mit 24 trank er zehn Bier täglich, wie Gutachter Böhle schilderte.

Ein Jahr später litt er an einer äußerst schmerzhaften Bauchspeicheldrüsenentzündung, die sich zu einer chronischen Krankheit entwickelte. Gegen die Schmerzen erhielt H. unter anderem Morphin, auch danach wurde er süchtig und holte sich später immer mehr Nachschub bei verschiedenen Ärzten, die voneinander nichts wussten, wie Böhle vor Gericht bereits am Dienstag geschildert hatte. In der Zeit, als er den kleinen Jungen vergiftet haben soll, habe der Morphinkonsum bei 1400 Tabletten innerhalb von nur drei Monaten betragen. Auch der Morphingehalt in seinem Körper wäre demnach für normale Menschen mehrfach tödlich gewesen. Dennoch sei H. – auch wegen der jahrelangen Gewöhnung an die Medizin – voll steuerungsfähig gewesen, sagte der Psychiater.

Zum möglichen Motiv des mutmaßlichen Mordes äußerte sich der Gutachter zurückhaltend. Denn H. habe von einer tollen Vater-Sohn-Beziehung gesprochen. Allerdings neige H. bei der Schilderung von familiären Angelegenheiten zum Idealisieren, Realitäten würden ausgeblendet, es bestehe ein großes Harmoniestreben. Die Staatsanwaltschaft geht hingegen davon aus, dass H. den kleinen Stiefsohn schon vor dem Todestag über Monate mit Schlaftabletten ruhig stellte – um besser schlafen zu können. „Das könnte eine Motivation sein“, drückte es der Gutachter vorsichtig aus, psychodynamisch sei der Vorgang schwer zu erklären.

Nach dem Tod des Jungen, der zunächst für die Rettungskräfte wie ein plötzlicher Kindstod wirkte, hatte der Angeklagte laut der 30 Jahre alten Mutter auch gesagt, nun könnten beide ein neues Leben starten. Als sie ihm daraufhin mangelnde Empathie vorwarf und die wegen der Medikamentensucht ohnehin kriselnde Beziehung beendete, soll H. sie aus Verärgerung mit dem Auto angefahren und dann wochenlang mit Nachrichten bedrängt haben. Das sei als Versuch der Besitzergreifung zu interpretieren, so der Psychiater.

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