zum Hauptinhalt

Auszeichnung: Leon Schwarzbaum erzählt gegen das Vergessen

Leon Schwarzbaum, Holocaust-Überlebender, bekommt das Bundesverdienstkreuz und sein verspätetes Abiturzeugnis, das 1939 verloren ging.

Potsdam - Im Sommer 1939 legte Leon Schwarzbaum seine Abiturprüfungen ab. Ein Zeugnis bekam er nie. Der zweite Weltkrieg hatte begonnen, die Deutschen wüteten auch in Schwarzbaums Heimatstadt Bedzin bei Kattowitz. „Die SS hat alles verbrannt“, sagt Schwarzbaum. „Ich war vor zwei Jahren noch mal da und habe nachgefragt, aber es gibt keine Unterlagen mehr“.

Das wird jetzt nachgeholt. Am heutigen Freitag bekommt Leon Schwarzbaum, heute Berliner und einziger Holocaust-Überlebender seiner großen jüdischen Familie, sein Abiturzeugnis bei einem feierlichen Empfang in Potsdam überreicht: eine Ehren-Abitururkunde eines Gymnasiums in Niedersachsen. Die dortigen Schüler hatten sich mit Schwarzbaums Leben beschäftigt, den biografischen Dokumentarfilm „Der letzte Jolly Boy“ gesehen und dann die Initiative für das Ehrenabitur gestartet.

Die Übergabe findet zeitgleich mit einer weiteren Ehrung statt: Schwarzbaum wird mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. „Für sein unermüdliches Engagement, Schülern und Auszubildenden in Berlin und Brandenburg über seine Erlebnisse in der Zeit von 1939 bis 1945 in den Vernichtungslagern Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen zu berichten“, heißt es vom Verein pro Brandenburg, der die Auszeichnung dem Bundespräsidenten vorgeschlagen hatte.

Die Nazi-Zeit nur mit Glück überlebt

Leon Schwarzbaum wird 1921 in Hamburg geboren, 1923 zieht die Familie nach Bedzin in Oberschlesien. Der Jugendliche Leon Schwarzbaum, Spitzname Henry, mag amerikanischen Swing und Jazz und gründet mit Freunden eine Musikgruppe, die Jolly Boys. Am örtlichen Fürstenberg-Gymnasium, gestiftet von seinem wohlhabenden Onkel, geht er zur Schule. In Geschichte und Sport ist er gut, in Mathematik und Latein eher mittelmäßig, sagt er. Sein Plan: ein Studium der Zahnmedizin. Dazu kommt es nicht mehr.

Die schrecklichsten Jahre seines Lebens bis zur Befreiung am 5. Mai 1945 überlebt er mit Glück und Geschick. Er sucht sich im Lager Aufgaben, macht sich nützlich, meldet sich freiwillig zur Zwangsarbeit, um den Gaskammern zu entgehen. Mehr als 30 Familienangehörige sterben in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Nach dem Krieg geht Schwarzbaum für ein halbes Jahr in die USA und kehrt dann doch zurück nach Berlin. „Hier waren meine Freunde, und das war jetzt meine Familie“, sagt Schwarzbaum. Hier beginnt sein neues, zweites Leben. Er heiratet und führt mit seiner Frau 40 Jahre ein renommiertes Kunst- und Antiquitätengeschäft in der Keithstraße.

Beunruhigt über politische Stimmung

Nach dem Tod seiner Frau und dem Ende seines Arbeitslebens im Geschäft beginnt er, seine Lebensgeschichte als Zeitzeuge zu erzählen. Lange Zeit habe er das nicht gekonnt, sagt er einmal. Aber die politische Stimmung beunruhigte ihn. „Ich verstehe nicht, dass man wieder solche Gedanken hat, dass wieder Ausländer beschimpft und angegriffen werden. Ich hätte nicht geglaubt, dass so etwas noch einmal möglich wird.“ Und so besucht er trotz seines hohen Alters regelmäßig Schulen und andere Einrichtungen, hält Vorträge und spricht auf Gedenkveranstaltungen. 2016 tritt er als wichtiger Zeuge im Detmolder Auschwitzprozess gegen einen SS-Mann und Lageraufseher auf. 2018 besucht er gemeinsam mit Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) Auschwitz. Parallel arbeitet er mit dem Regisseur Hans-Erich Viet an dem Film über sein Leben. Ein anstrengender, aufwühlender Prozess, der mit vielen Reisen an originale Orte verbunden ist. „Die Wahrheit zu erzählen, das ist meine Mission“, sagt Schwarzbaum. „Die Schüler sind wissbegierig. Solange der liebe Gott mir die Kraft dazu gibt, werde ich das weiter machen.“

Das tut er in seiner besonderen Art, die den meist jugendlichen Zuhörern den Zugang zu so einem schwierigen Thema erleichtert. Auch mit beinahe 100 Jahren kann Schwarzbaum strukturiert, konzentriert und manchmal mit einem berührenden Grad Humor erzählen. Das kommt bei den Schülern an. Wenn Leon Henry Schwarzbaum spricht, piept kein Telefon im Saal.

„Er spricht sehr sachlich und wird nie ausfällig“, sagt seine langjährige gute Freundin Etta Schiller aus Potsdam, Brandenburgs frühere Oberfinanzpräsidentin und Mitglied von Pro Brandenburg, mit Bewunderung und Respekt. „Natürlich belastet ihn seine Vergangenheit, das wird man sein Leben lang nicht los.“ Dass er jetzt das Bundesverdienstkreuz erhält, sei eine wichtige Würdigung.

Pläne für die Zukunft

„Ich freue mich über beides sehr“, sagt Leon Schwarzbaum. Das nachträgliche Abiturzeugnis sei aber die größere Überraschung gewesen. Immer wieder habe er im Laufe seines Lebens versucht, das Zeugnis nachträglich verliehen zu bekommen – aber die Behörden sahen keine Möglichkeit. Es hätte ihm viel bedeutet. „Das Gymnasium in Bedzin gehörte zu den besten in Polen. Unsere Lehrer waren erstklassige Professoren“. Man habe ihm gesagt, dass er mit dem jetzigen Zeugnis theoretisch studieren könnte, aber das sei wohl doch etwas unrealistisch. „Das Zeugnis macht mich trotzdem glücklich, es ist etwas von früher.“

Er hat dennoch neue Pläne für die Zukunft. „Ich möchte nach Potsdam ziehen, noch Ende dieses Jahres oder Anfang 2020“, sagt Schwarzbaum. „Potsdam gefällt mir sehr, vor allem die Architektur.“ Und er werde auch künftig Einladungen von Schülern annehmen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false