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Ausstellung im Potsdamer Hauptbahnhof: O-Ton der Revolution

Kostbares Fundstück: Originale Mitschnitte von Potsdamer Reden aus dem Jahr 1989 sind jetzt in einer Ausstellung in den Bahnhofspassagen zu hören.

Potsdam - "Bürger Potsdams, wacht auf! Wir gehen einen guten Weg!" Kurze Pause, Stille. "Wir danken allen, die diesen guten Weg vorbereitet haben, den Mitarbeitern der Deutschen Volkspolizei", hier hört man vereinzelte Pfiffe, aber gleich ist es wieder ruhig, "den Mitarbeitern des Deutschen Roten Kreuzes und des Straßenwesens..." Der Potsdamer Pfarrer Martin Kwaschik spricht deutlich, nicht zu schnell, aber mit Nachdruck – ein Pfarrer eben, er kann das. Es ist der 4. November 1989 auf dem Luisenplatz, damals Platz der Nationen, der gerammelt voll ist, Tausende Potsdamer sind zur ersten offiziellen Demonstration der Bürgerbewegung erschienen. „Diese Demonstration heute ist genehmigt worden. Von denen, die es lieber sehen würden, wenn wir wie bisher schweigen“, wird der Potsdamer Schauspieler Hartmut Mechtel später sagen, und weiter sprechen zum Thema Rede- und Pressefreiheit, zu Grundrechten wie Versammlungsfreiheit.

Die Ausstellung im Bahnhof wird trotz Corona gezeigt

Es sind bewegende Worte – vor allem, wenn man sie im Originalton hören kann. Das ist nun erstmals möglich. Nach mehr als 30 Jahren sind die originalen Mitschnitte dieses wichtigen Ereignisses jetzt neu zu erleben – in einer Ausstellung. Die, weil sie in den Bahnhofspassagen stattfindet, trotz Corona-Einschränkungen gezeigt werden darf. Zu sehen sind großformatige Bilder dieser Demonstration, die der Fotograf Bernd Blumrich damals machte. Jede Bildtafel enthält zudem einen QR-Code, über welchen man sich auf seinem eigenen Smartphone die Reden im O-Ton anhören kann. Neben Kwaschik und Mechtel sprachen unter anderem die Potsdamer Pfarrer Annette Flade und Hans Schalinski, der Wissenschaftler Reinhard Meinel und Olaf Grabner, Mitglied der Bürgergruppe „Gruppe der Acht“.

Der Elektriker Martin Gürtler versteckte die Tonaufnahmen

Die Redner standen damals auf einem Balkon einer Wohnung am Luisenplatz. Um die Bänder mit den Aufnahmen kümmerte sich anschließend niemand. Der Elektriker Martin Gürtler, ein Bekannter von Blumrich, nahm die Rollen an sich. Insgesamt 3700 Minuten mutige, deutliche, motivierende und versöhnliche Sätze einer Bürgerschaft, die sich zum ersten mal so laut, so öffentlich und vor allem legal äußerte. Und trotzdem war vielen das alles noch nicht geheuer. Im Publikum standen nicht wenige Stasileute, getarnt als Demonstranten. Wenn Annette Flade davon sprach, dass es keinem zum beruflichen Nachteil geraten darf, wenn er vom Recht auf Meinungsfreiheit gebraucht machte, dann war das ganz direkt zu verstehen.

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„Auch Martin Gürtler hatte noch lange Angst vor der Stasi“, sagt Bernd Blumrich, der erst vor kurzem an die Tonbänder gelangte. „Gürtler versteckte damals die Tonbänder, eine ganze Kiste voll, getarnt als schmuddeligen Postkarton, in einer Ecke seiner Werkstatt in Stahnsdorf“, so Blumrich. Es kamen Jahre, in denen es wichtiger war, anzupacken als zu erinnern, die kostbaren Zeugnisse wurden vergessen. Erst als Gürtler 2009 starb, erinnerte sich Blumrich, dass da noch irgendwo die Kiste mit den Bändern sein müsste, suchte und fand sie. Das Ergebnis überraschte ihn. „Die Tonbänder waren in einer Topqualität.“ Von einer Berliner Firma wurden sie professionell digitalisiert. Jetzt liegt die Tonspur vor, dazu die transkribierten Texte.

Die Ausstellung entstand mit der Potsdamer Bürgerstiftung

Die Ausstellung wurde schließlich mit der Potsdamer Bürgerstiftung konzipiert und sollte ursprünglich auch im Gebäude der Stiftung in der Friedrich-Ebert-Straße gezeigt werden. Weil das aus baulichen Gründen nicht möglich war, zog man um in die Bahnhofspassagen – ein Glücksfall. So bleibt sie auch während des Teil-Lockdowns sichtbar.

Erinnerungen mit Gänsehaut

Und vor allem – hörbar. Wer damals dabei war, wird sich mit Gänsehaut an diese Stunden erinnern. An diese Tage kurz vor dem Mauerfall. Noch ist damals nichts entschieden. Deshalb schwingt in vielen Reden auch noch diese gewisse Vorsicht mit. Deshalb bedankt sich Pfarrer Kwaschik auch bei der Volkspolizei, die kaum einen Monat zuvor Demonstranten brutal verfolgte und festnahm. Der Pfarrer stimmt schließlich sogar das Arbeiterlied „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor“, an. Was für ein kurioser Vorgang. Die Redner betonen, wie wichtig es ihnen ist, das eigene Land zu erneuern. Annette Flade spricht davon, dass es die Meinungsfreiheit braucht „für eine sozialistische Politik, die lebensfähig ist“. Sie sieht sogar bereits Erfolge im Erneuerungsprozess: „Es lohnt sich wieder, die Tageszeitungen zu lesen“, sagt sie - versöhnliche Töne, während Hartmut Mechtel die weiterhin einseitige Berichterstattung kritisiert. Und warnt: „Wenn der Druck von unten nachlässt, kann sich der alte Zustand schnell wieder einstellen“.

Ein Katalog der Ausstellung ist bei der Potsdamer Bürgerstiftung, Klosterkeller, Friedrich-Ebert-Straße 94, für 5 Euro erhältlich.

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