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Lesya Richter ist in Schytomyr im Westen der Ukraine geboren. Ihren Mann Uwe lernte sie beim Skifahren im Erzgebirge kennen. 

© Andreas Klaer

Aus Potsdam an die ukrainische Grenze: In einem Meer von Tränen

Lesya Richter vom Wein-Bistro „Lewy“ und ihr Mann Uwe holten Verwandte aus der Ukraine. Sie berichten über die Dramatik an der Grenze und Trauer von Russen.

Von Carsten Holm

Potsdam - Es war ein Augenblick am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Jahodyn, den Lesya Richter nicht vergessen wird. Am vergangenen Samstag stand die Chefin des Potsdamer Wein-Bistros „Lewy“ an der Dortustraße kurz nach 13.30 Uhr auf ukrainischer Seite neben ihrem VW Caddy, gerade hatte sie die zweijährige Zlata und den sechs Jahre alten Kyrill, die Kinder ihres Neffen Nikolaj, in ihre Arme geschlossen. Sie wollte die Geschwister und deren 32-jährige Mutter Maria aus dem Kriegsgebiet in Sicherheit bringen, gleich sollte die Fahrt in die brandenburgische Landeshauptstadt beginnen. Plötzlich schrie ein ukrainischer Grenzsoldat: „Alle runter! Alle hinlegen!“

Es gab ein großes Geschrei. Richter, die in der Ukraine geboren und aufgewachsen ist, warf sich neben ihr Auto, die Kinder und deren Mutter ebenso. Ukrainische Grenzsoldaten zielten mit ihren Gewehren in den Himmel. Eine belarussische Drohne ziehe da ihre Bahnen, sagte einer. „Ich hatte Herzklopfen“, erzählte Lesya Richter, „aber nach zwei, drei Minuten war alles vorbei. Ich rief den Kindern nur noch zu: los, los, los, ins Auto.“ Der Grenzsoldat hatte Entwarnung gegeben. Mitunter kämen bewaffnete Drohnen an die Grenze, sagte er, diese aber sei offensichtlich nur eingesetzt worden, um zu filmen. Belarus ist nur rund 40 Kilometer Luftlinie entfernt.

Für die Geflüchteten standen Wasser, Kekse und Obst bereit

Die 48 Jahre alte Gastronomin war am Samstagmorgen um fünf Uhr mit ihrem Ehemann Uwe, 59, mit dem sie das „Lewy“ seit acht Jahren betreibt, in Potsdam aufgebrochen. Über Berlin, Frankfurt/Oder, Posen Warschau und Lublin ging es in Richtung Grenze, rund 1700 Kilometer hin und zurück.

Ihr Mann wartete zunächst auf der polnischen Seite, und schon dort waren die Richters fast sprachlos über den Empfang, den Polen Flüchtlingen aus der Ukraine bereiteten. Einige standen da mit großen Schildern. „Ohne zu bezahlen“, war darauf zu lesen, und: „Essen, Trinken, Transport und Wohnen.“ Wasser stand in Mengen bereit, Kekse und Obst. Nach und nach hielten Autos aus der Ukraine an, teils Kleinwagen, in die sich sechs, sieben Menschen gequetscht hatten.

Die Richters holten die zweijährige Slata, den sechsjährigen Kyrill und ihre Mutter Maria nach Deutschland. 
Die Richters holten die zweijährige Slata, den sechsjährigen Kyrill und ihre Mutter Maria nach Deutschland. 

© privat

Was die Potsdamerin freute: Eine ukrainische Grenzbeamtin fragte sie, ob sie aus Deutschland gekommen sei, um Verwandte abzuholen. Sie bejahte die Frage. Da stand die Beamtin in ihrem Kontrollhäuschen auf und sagte: „Danke!“

Als Lesya Richter die Grenze zu ihrem Heimatland überfahren hatte, sah sie bald ihren Neffen Nikolaj, einen 33-jährigen Filmtechniker, dessen Frau Maria und die beiden Kinder. „Sie leben in Kiew, 500 Kilometer entfernt, und haben am vergangenen Donnerstag um fünf Uhr früh an mehreren Stellen der Hauptstadt Explosionen gehört. Sie haben gleich Nikolajs Mutter, die in Mannheim lebt, und mich angerufen. Am Samstag bin ich mit meinem Mann losgefahren, um sie an der Grenze abzuholen.“

Tausende Menschen standen da - und weinten

Da harrte die Familie nun in Eiseskälte mit ein paar Koffern mit dem Nötigsten aus, und dann stand ihr ein schrecklicher Moment bevor. Ukrainischen Männer im Alter von 18 und 60 Jahren ist die Ausreise verwehrt, sie müssen im Land bleiben, um zu kämpfen. Es waren herzzerreißende Szenen, die Lesya Richter an der Grenze sah, „ein Meer von Tränen“. Abertausende Menschen standen da, weinten und schluchzten, Kinder verabschiedeten sich tränenüberströmt von ihren Vätern, Frauen wollten sich nicht von ihren Männern trennen. „Ich habe das nur ein paar Minuten erlebt, aber es war sehr schwer auszuhalten. Auch ich habe geweint, weil ich nicht wusste, ob ich meinen Neffen jemals wiedersehen würde.“

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Aber sie hörte auch die Entschlossenheit ihres Neffen Nikolaj: „Ich gehe in den Krieg. Ich will mein Land verteidigen. Wie soll ich sonst meinen Kindern in die Augen sehen?“ Seine Frau Maria habe „über Hunderte Kilometer geweint“, sagt Lesya Richter, „den ganzen Weg bis nach Deutschland.“ In Potsdam wartete ihre Schwiegermutter, die Schwester Lesya Richters, auf sie, am nächsten Morgen ging es gleich weiter nach Mannheim, wo die Schwester mit ihrer Familie lebt. „Und niemand weiß, für wie lange“, sagt Richter.

Sie selbst ist in der Großstadt Schytomyr im Westen der Ukraine geboren und aufgewachsen, hat Köchin gelernt und zehn Jahre in Kiew in gehobenen Restaurants im Stadtviertel Podil am Fluss Dnepr gearbeitet. Ihren Mann Uwe, ein Maschinenbauingenieur und nach der Wende Inhaber von zwei Autohäusern in Rostock, lernte sie beim Skifahren im Erzgebirge kennen. „Ich bin ihm wirklich vor die Füße gefallen, weil ich mich auf Skiern wie eine Kuh bewegt habe“, erzählt sie. Es ist der einzige Moment in dem langen Gespräch in ihrem Bistro am vergangenen Dienstag, dem sechsten Tag des Krieges, in dem sie herzhaft lachen kann. Ihr sonst so fröhliches Gesicht ist gezeichnet von den Erlebnissen der vergangenen Tage.

[Lesen Sie auch: Krieg gegen die Städte - Ändert Putin jetzt seine Strategie? (T+)]

„Was soll das, Papa? Willst du jetzt auf mich schießen?“

Die Dramatik von Putins Krieg gegen ihre Heimat wird deutlich, wenn sie berichtet, was er für ihre Familie bedeutet. Aus erster Ehe mit einem Russen, der aus einer Armee-Familie stammt, hat sie einen 27-jährigen Sohn, der in Potsdam wohnt. Sein Vater lebt in Nischnij Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau. Am ersten Tag des Krieges, rief er seinen Vater an und fragte: „Was soll das, Papa? Willst du jetzt auf mich schießen?“ Der Vater, so erfuhr es Lesya Richter von ihrem Sohn, sei tieftraurig gewesen. Niemand, den er kenne, habe von dem Angriff gewusst, alle seien „entsetzt“.

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Sie habe mit ihrem 45-jährigen Cousin Igor aus Kiew telefoniert, einem Goldschmied, dessen Vater die Trauringe für die Richters geschmiedet hatte. Er sei mit seiner Frau und drei Töchtern in einem Dorf nahe der Hauptstadt gestrandet, er wolle seine Töchter in Sicherheit bringen – und Lesya und Uwe Richter wollen ihm dabei helfen. Eine Tante, die 200 Kilometer von Kiew entfernt in der Mittelukraine wohnt, kündigte an, „eine Bar aufmachen“ zu wollen. Sie will Molotow-Cocktails herstellen.

„Das Schlimmste steht uns noch bevor“

Lesya Richter versucht zu begreifen, was den Kreml-Chef antreiben könnte – aber sie scheitert damit: „Russen und Ukrainer haben im Zweiten Weltkrieg den Faschismus besiegt. Ich habe so viele Russen im meinem Freundeskreis. Ich verstehe das alles nicht.“ Eine enge Freundin, die aus Belarus stammt und in Potsdam lebt, habe sie angerufen und gesagt, sie schäme sich für ihr Land. Richter beruhigte sie: „Es ist nicht unser Krieg. Ich möchte, dass wir Freunde bleiben.“

Lesya Richter weiß, dass Kiew sich gegen die russische Übermacht kaum noch lange wird wehren können. „Das Schlimmste steht uns noch bevor“, sagt sie, „aber was will Putin mit einem zerstörten Land, in dem die Hälfte der Einwohner geflüchtet oder umgekommen sein wird, die andere Hälfte gegen ihn ist und er in fast der ganzen Welt isoliert sein wird?“

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