zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Auf der Suche nach dem sinnhaften Ganzen

Der Wettbewerb für den Langen Stall, ein zentrales Innenstadtareal, ist entschieden. Doch es bleiben Fragen an den Gestaltungsrat und die Preisrichter. Eine Kritik an der ästhetischen Qualität des Siegerentwurfs: Nirgends Ornamente, nur Pfeiler, Balken, Fenster und Wände. Von Jörn Köppler

Die Einrichtung eines Gestaltungsrates für die Stadt Potsdam ist eine in jeder Hinsicht zu lobende Entscheidung. Die Architektur ist als Versuch räumlicher Kultivierung immer in Gefahr durch vermeintlich pragmatische Interessen vom Tisch der Entscheidungen gestoßen zu werden. Hier kann ein Instrument wie ein Gestaltungsrat ansetzen. Das allerdings stellt an solch einen Beirat zugleich hohe Anforderungen, muss er doch seine ästhetischen Argumentationsmaßstäbe nachvollziehbar darlegen können.

Betrachtet man allerdings das Verfahren um die Neubebauung des Areals „Langer Stall“, so stellt sich die Frage, ob tatsächlich begründbare ästhetische Maßstäbe die Entscheidungen des Gestaltungsrates anleiten. Zur Erinnerung: Im November vergangenen Jahres kritisierte der Gestaltungsrat den von der Asset-Gruppe und dem Architekturbüro Nöfer vorgelegten Entwurf der Erweiterung des Brockesschen Hauses und der Bebauung des Areals Langer Stall sehr deutlich. So deutlich, dass der Investor seine Pläne zurückzog und sich, wie vom Rat nahegelegt, bereit erklärte, einen Wettbewerb zur Bebauung des Areals Langer Stall durchzuführen. Dieser Wettbewerb ist jüngst entschieden worden, dem Architekturbüro Höhne wurde der erste Rang von der Jury zugesprochen, in welcher auch drei Mitglieder des Gestaltungsrates saßen. Das Ergebnis des Prozesses erscheint allerdings hinsichtlich der zur Debatte stehenden ästhetischen Qualität mindestens fragwürdig.

Legt man beide Entwürfe nebeneinander, so stellt sich die Frage, weshalb ein sicherlich kritikwürdiger Entwurf im neo-klassizistischen Stil (Entwurf Nöfer) ästhetisch – nicht funktional – soviel schlechter sein soll als ein preisgekrönter Entwurf im neo-prämodernen Stil (Entwurf Höhne). Beide Entwürfe bedienen sich historistischer Formensprachen, der eine reicht dabei bis vielleicht in das Jahr 1890 zurück, der andere in das Jahr 1910. Und nun? Hierin wird ein Grunddilemma zeitgenössischer Architektur sichtbar: Im aktuellen Architekturdiskurs gibt es keine verbindlichen Kriterien ästhetischer Qualität, auch wird kaum ernsthaft darüber nachgedacht, an diesem Zustand etwas zu ändern. Was nicht allein für Außenstehende befremdlich klingen mag, soll im Folgenden erläutert werden.

Zuerst wäre zu fragen, was ist überhaupt ästhetische Qualität? Mitnichten ist sie ein Abstraktum aus der Welt der Hochschuldiskurse. Vielmehr liegt sie nahe bei dem, was wir tun, wenn wir ein Haus betrachten und nicht allein beurteilen sollen, ob es praktisch und gut konstruiert ist, sondern ob es auch schön sei. Diese Form der Beurteilung führt zur klassischen Definition ästhetischer Qualität, die der antike Autor Vitruv eben durch die venustas, die Schönheit also, zum Ausdruck gebracht sah und welche die baulichen Kategorien der firmitas (Festigkeit) und utilitas (Nützlichkeit) überwölbend abschloss. Überwölbend deshalb, da die Schönheit als Ausdruck eines ideellen Gehaltes des Bauwerkes den physischen Kategorien der materiellen und funktionalen Qualität erst eine Bestimmung, einen Sinn also verlieh. Bezogen auf den Bewohner könnte man sagen, dass sich im Schönheitsausdruck die geistige Dimension seiner Selbst widerspiegeln sollte, sein Fragen nach Sinn.

Betrachtet man nun genauer, was wiederum den Begriff des Sinns auszeichnet, so wird deutlich, dass die Erfahrung der Schönheit nicht etwa historisch geworden ist, sondern vielmehr auf eine überzeitliche Erkenntnisbegabung des Menschen verweist. Für die Moderne war es Immanuel Kant, der das, was wir intuitiv als Sinn bezeichnen, in präzise Fragen fasste: Die Frage nach Erkenntnis (Was kann ich wissen?), die Frage nach Moralität (Was soll ich tun?) und die Frage nach dem Glauben (Was darf ich hoffen?). Was in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist, dass Kant weiter zeigte, dass diese Fragen nicht rational, also durch wissenschaftliche Argumentation zu beantworten sind. Dieses ist allein ästhetisch, durch die Erfahrung der Schönheit, genauer: der Schönheit der Natur möglich, in welcher ein Schluss auf ein sinnhaftes Ganzes möglich wird.

Unweigerlich ist am existenziellen Charakter dieser Fragen – für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft – zu erkennen, wie zentral der Begriff der Schönheit für das Bauen eigentlich sein müsste. Genau das Gegenteil aber ist der Fall: Der Mainstream der modernen Architektur, seit den 1920er Jahren bis heute, möchte in der Kategorie der Schönheit keine relevante Qualität mehr für das Bauen erkennen. Das aber heißt hinsichtlich des Gesagten nicht weniger, als dass die geistige Dimension meiner Selbst von so gebauter Architektur ausgesperrt würde und die Frage nach der ästhetischen Qualität des Gebauten sich damit erübrigt. Genau das aber geschieht in beiden hier diskutierten Entwürfen, was das Unwohlsein bei der Vorstellung ihrer Realisierung begründen mag.

Vor allem im Siegerprojekt des Wettbewerbes sieht man stattdessen auf eine Form, die nicht nur sich des Ornamentes als klassischem Ausdruck der ideellen Dimension der Schönheit entledigt hat, sondern anstelle dessen auch nichts Anderes setzt, was diese hervorrufen könnte. Was man sieht, ist die rein technische Konstruktion, Pfeiler und Balken, Wand und Fenster, denen jeder symbolische Verweis auf ein sinnhaftes Ganzes fehlt. Bezeichnet man die ästhetische Betrachtung eines Gebäudes mit Kant als einen Erkenntnisversuch, Sinn im Gesehenen zu finden, so kann dieses Gebäude so gut darauf antworten, wie dieses eine Maschine kann, nämlich gar nicht. Interessanterweise zitiert der Preisträger als Referenz seiner Architektur die Stoa des Attalos in Athen. Der allessagende Unterschied zwischen beiden Bauten liegt allerdings darin, dass man in der Stoa genau jenes fehlende Ornament findet, welches über die sogenannten dorischen und ionischen Säulenordnungen den symbolischen Bezug zu einem als sinnhaft angesehenen Ganzen herstellt: Was im antiken Griechenland die Welt der Götter meinte, welche Sinn definierten und hüteten. Nun ist natürlich ein Ornament dieser Form nicht einfach wieder an die von der Moderne entkleideten Baukörper anzubringen, um deren Sinnfremdheit aufzuheben, wie das in dem Vorgängerentwurf von Nöfer Architekten zumindestens zart anklingt. Würde das doch bedeuten, dass wir auch dem Zeus, der Athene und Apollon die Repräsentanz für das sinnhafte Ganze wieder zusprechen müssten.

Die Sache ist schwieriger. Sie setzt vor allen formalen Fragen dort an, dass wir beantworten können müssten, was das sinnhafte Ganze denn für unsere Zeit sein soll. Wie also die Fragen nach Erkenntnis, Glauben und vor allem die Frage nach der Moralität heute zu beantworten wären. Dass dieses aber momentan unklarer denn je scheint, zeigt der Blick auf die beiden Großkrisen der Gegenwart, die Finanz- und die Klimakrise.

„Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, könnte man jetzt fragen. Wenn wir über Architektur reden und nicht über reines Bauen kann man mit Blick auf die Dimension der Schönheit als ästhetischer Qualität eines Gebäudes nur antworten: Leider nein. Und wir Architekten sollten auch ehrlich zugeben, dass an diesem Punkt ein fundamentales Problem in unserer Disziplin – wie in der Gesellschaft – besteht, welches danach drängt, benannt und vor allem reflektiert zu werden. Dieses aber zu verschweigen bzw. gar nicht sehen zu wollen und anstelle dessen Behauptungen über Qualitäten eines Gebäudes zu setzen, hilft niemanden. Und vielleicht wäre ja die Institution eines Gestaltungsrates der Ort, an dem solch eine Diskussion beginnen könnte. Es wäre ein mutiger Schritt, der aus meiner Sicht Architekten und Nicht-Architekten wieder aneinander annähern könnte, wenn wir feststellen würden, dass uns beide die gleichen Sorgen umtreiben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false