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Auf der Flucht: Eine Schulklasse verschwindet aus Potsdam

1950 setzte sich eine komplette Potsdamer Klasse nach West-Berlin ab. Ein heutiger Schüler hat erforscht, was damals passierte.

Potsdam - Ein unerhörter Vorfall: Eine komplette Schulklasse und zwei Lehrer setzen sich 1950 nach West-Berlin ab. Die Einstein-Oberschule, heute Gymnasium, wird nach dem Eklat aufgelöst. Das imposante Gebäude an der Ecke Schopenhauerstraße/Hegelallee wird erst seit 1991 wieder als Schule genutzt. Julius Klingemann, 16 und heute Einstein-Zehntklässler, wollte mehr über diesen Teil der Schulhistorie wissen und schrieb zunächst eine Facharbeit dazu. Weil die Geschichte so spannend war, forschte und schrieb er weiter, reichte die umfassende Arbeit für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ein und wurde Landessieger. Am morgigen Mittwoch findet die Preisverleihung in Berlin statt. Auch sein Tutor, der Potsdamer Geschichtslehrer im Ruhestand Dieter Rauchfuß, und Rosemarie Grajetzki aus jener Klasse von 1950 werden dabei sein.

„Es ist gut und richtig, dass man sich erinnert. Es gibt Dinge, die sollten wir nicht vergessen“, sagt Grajetzki, als sie in der vergangenen Woche zu einem Treffen mit Julius und den PNN nach Jahrzehnten in ihre alte Schule kommt. Damals war sie 17. Heute lebt sie in Caputh und hat Julius bei der Recherche zur Arbeit geholfen.

Julius’ Recherche beginnt im Internet. Er findet den ehemaligen Schüler Peter Runge, der in einem Buch die Geschichte der „Aktion weiße Nelken“ erzählt: Zur Demo am 1. Mai 1946 tragen Einsteinschüler nicht die verordneten roten, sondern weiße Nelken. Einige, auch Peter Runge, werden deshalb verhaftet. Runge wird nach Monaten im Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße ins berüchtigte Speziallager Sachsenhausen gebracht. Er überlebt und kehrt 1950 zurück in die Klasse. „Er war total verändert, viel stiller“, sagt Grajetzki.

Julius forscht in den Suchmaschinen des Internets weiter und stößt eines Tages auf den ehemaligen Schüler Ernst-Friedrich Gluschke in Bremen. Der schickt ihm umfängliches Material, unter anderem das Schultagebuch, das er mithilfe des Hausmeisters retten konnte. Und er vermittelt den Kontakt zu Rosemarie Grajewski.

„Ich war überrascht, wie viel Material ich fand“, sagt Julius. „Alles war spannender als ich dachte.“ Die Geschichte fesselt ihn. Einmal besucht er das damalige Untersuchungsgefängnis der Russen, das spätere Stasigefängnis in der Lindenstraße. „Das hat mich sehr berührt.“

Die Klasse galt als aufmüpfig

Die Schüler von 1950 wissen von willkürlichen Verhaftungen wegen Nichtigkeiten wie Versäumen des Russischunterrichts. Sie wissen, dass man dafür wie Peter Runge verhaftet, ins Lager gesteckt oder sogar hingerichtet werden kann. Sie haben zwar Angst, wagen aber auch Widerstand, erzählt Grajetzki. „Unsere Klasse galt als besonders aufmüpfig.“ So verweigern sie die Teilnahme am Geschichtsunterricht bei einem Lehrer, der früher ein stadtbekannter Nazi war, und wollen nicht in die FDJ eintreten. Der Schulleiter stellt sich schützend vor die Jugendlichen, aber dann tauchen geheime Zettel auf, weitergegeben von Hand zu Hand. „Da stand: Verschwindet, ihr sollt alle abgeholt werden“, sagt Grajetzki. „Das haben wir sehr ernst genommen.“

So kommt es, dass alle 25 Schüler und zwei Lehrer einzeln und unauffällig am 12. und 13. Juni 1950 nach West-Berlin fahren. „Die Grenze war ja noch offen“, sagt Grajetzki. Gefährlich war es dennoch. „Ich sagte, dass ich meinen Onkel besuche und über Nacht bleibe.“ In Westkreuz treffen sich alle, gelangen in ein Aufnahmelager und werden allesamt als politische Flüchtlinge eingestuft. Nach einigen Wochen werden sie von der Stadt Bremen aufgenommen. Dort kommen sie in Gastfamilien, gehen wieder zur Schule und machen ihr Abitur. Rosemarie Grajetzki wird später Lehrerin.

Einer nimmt sich das Leben

Ihren Eltern schreibt sie kurz nach der Flucht aus Bremen mit verstellter Schrift und unter falschem Namen. Die Angst, dass doch noch etwas passieren könnte, ist groß. Lange Zeit hat sie Albträume und wacht oft schreiend auf, erzählt sie. Ein Schüler nimmt sich im Jahr der Flucht das Leben. Ihr gemeinsames Schicksal schweißt sie aber auch zusammen, bis heute stehen sie in engem Kontakt.

Die Eltern der Schüler werden nach der Klassenflucht zu politischen Aussprachen bestellt und sollen ihre Kinder zur Rückkehr überreden. Das tut keiner. Die Schule wird aufgelöst. Grajetzki trifft sich erst Jahre später, aber noch vor dem Mauerbau in West-Berlin mit den Eltern. In die DDR traut sie sich erst Ende der 70er-Jahre. Sie ist die einzige, die nach der Wende zurück in die Heimat zieht, alle anderen bleiben im Westen.

Zwei Wochenstunden Geschichte sind zu wenig

Die Vorfälle jener Zeit werden nach 1989 nur zögerlich in Potsdam aufgearbeitet. „Da gab es Versuche, aber nie so gründlich“, sagt Julius. Schulleiterin Irene Krogmann-Weber sagt, dass die Forschungsarbeit den Schülern in einer Veranstaltung vorgestellt werden soll. Julius findet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wichtig. Zwei Wochenstunden Geschichtsunterricht seien zu wenig. „Es ist eine tolle Leistung“, sagt Tutor Rauchfuß zur Arbeit. Grajetzki sagt, sie findet es bedenklich, dass Julius’ Geschichtslehrerin die Facharbeit ausgerechnet um das Kapitel „Reaktionen auf die Flucht“ kürzen ließ. „Gerade das ist doch wichtig, zu zeigen, wie die Gesellschaft mit so etwas umgeht. Ich wähle deshalb nicht die Linken und auch nicht die Rechten.“ Julius selbst schreibt als Fazit: „Wir sollten am Einstein-Gymnasium den mutigen Schülerinnen und Schülern von damals den Respekt erweisen, den sie verdient haben.“

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