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Landeshauptstadt: Auf Antrag schulreif

643 Kinder sind im vergangenen Jahr in Berlin vorzeitig eingeschult worden. Oft ist das eine gute Idee, manchmal nicht. Die Entscheidung liegt bei den Eltern, Schulärzte dürfen nur beraten. Nicht immer herrscht Einigkeit – Von Daniela Mart

Noemi-Luana malt mit ausgestrecktem Zeigefinger ein großes A in die Luft. Sie kichert. „Ich kann auch schon “Chocolate“ schreiben“, sagt sie stolz und hält ein buntes Bild in die Höhe. Darauf steht in ordentlichen Großbuchstaben: „BRPOCHOCOLATE“. „Das hab“ ich von meinem Stift abgemalt. „Ach, von dem Schokoladen-Duftstift“, sagt ihre Mutter und: „Du bist ja schlau!“ Luana kann noch mehr: Rasend schnell bis 50 zählen und dabei mit dem Oberkörper hin- und herwackeln, auf Englisch kommt sie etwas langsamer bis zehn. Und schlägt gleich darauf einen Purzelbaum auf der Couch im Kreuzberger Wohnzimmer ihrer Eltern. Sie weiß, dass „Bagpack“ auf englisch Rucksack heißt und „Map“ Landkarte. Dabei ist das kleine, blonde Mädchen mit der schicken Kurzhaarfrisur noch nicht unbedingt alt genug für die Schule. Noemi-Luana Alexander, Rufname Luana, wird erst im Januar sechs, „wenn der Schnee da ist“. Lange, nachdem sie in die Schule gekommen ist. Ihre beste Freundin aus der Kita, ebenfalls Schulanfängerin, ist wesentlich älter. „Sie ist ein Muss-Kind und du bist ein Kann-Kind“, sagt die Mutter.

Bei der Schulverwaltung heißen Kinder wie Luana auch „Antragskinder“. Denn im Schulgesetz steht, dass auf „Antrag der Erziehungsberechtigten“ Kinder in die Schule aufgenommen werden können, die in der Zeit vom 1. Januar bis 31. März des folgenden Kalenderjahres sechs Jahre alt werden. 2005 waren das in Berlin 702 Kinder, im Jahr darauf 781 und im vergangenen Jahr 643. „Für begabte Kinder, die sich in der Kita und zu Hause langweilen, weil sie unterfordert sind, ist die vorzeitige Einschulung eine gute Sache“, sagt Dietrich Delekat, Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes und zuständig für die Einschulungsuntersuchungen in Kreuzberg. „Es gibt Kinder, die müssen einfach so früh in die Schule. Sonst sind sie später in der ersten Klasse ebenfalls unterfordert und können längst lesen und schreiben, während ihre Klassenkameraden gerade mal die ersten Buchstaben lernen.“

Die „Antragskinder“ begutachtet Delekat immer als erstes, schließlich müssen Eltern und Kita wissen, woran sie sind. Luana hat den Entwicklungs- wie den Intelligenztest bei der Untersuchung bestanden und wurde für schulreif befunden. „Ich musste auf einer Linie hin- und herhopsen“, sagt sie. „Und dann musste ich den Baum zumachen, das war leicht. Das Arztkreuz war schon etwas schwieriger.“ Luana habe bei der Untersuchung Zeichnungen vervollständigen müssen, klärt Mama Nicole auf.

Und wer hatte die Idee zu der frühen Einschulung? „Wolltest du von allein in die Schule oder wollte ich das?“ fragt Nicole Alexander. „Ich!“ ruft Luana laut und strahlt. „Schon mit vier“, ergänzt die Mutter. „Ich habe sie nur unterstützt. Sie sagte damals, sie wolle keine Babybilder mehr malen.“ „Genau, die Kitakinder machen immer so viel Krikelkrakel“, mischt Luana sich ein. Und dann war da noch die Sache mit dem täglichen Mittagsschlaf in der Kita: „Das hat so genervt und immer so lange gedauert.“ Stattdessen hätte Luana viel lieber schon lesen gelernt – Prinzessinenbücher. Die Mutter hat ihre Tochter von Anfang an unterstützt, war aber dennoch oft hin- und hergerissen: „Man nimmt ihr ja auch ein Jahr Spielen und das Ungezwungene weg.“ Wäre der Schularzt dagegen gewesen, hätte sie ihre Tochter noch nicht in der Schule angemeldet.

So geht es Dietrich Delekat nicht mit allen Eltern. „Der Riesennachteil ist, das man die Eltern nicht aufhalten kann, wenn sie sich die vorzeitige Einschulung einmal in den Kopf gesetzt haben“, sagt der Mediziner. „Über die Aufnahme in die Schule entscheidet der Schulträger“, heißt es bei der Senatsverwaltung. „Er hat dabei keinen Ermessensspielraum, alle “Antragskinder“ müssen aufgenommen werden.“ In Delekats Kreuzberger Praxis kommen viele arabischstämmige Eltern aus „bildungsfernen Familien“, die ihre ohnehin schon „entwicklungsverzögerten Kinder“ auch noch früher einschulen wollten. „Kinder, die absolut nicht schulreif sind.“ Kinder, die man eher zurückstellen sollte.

2006 sind in Berlin 924 Schulanfänger zurückgestellt worden, 2007 nur noch 651. Seit vor drei Jahren die sogenannten Vorklassen, die nicht schulreife Kinder früher aufnahmen, abgeschafft wurden, sind Zurückstellungen wesentlich schwieriger durchzusetzen als vorzeitige Einschulungen. Und so gibt es kaum eine Hürde für die vorzeitige Einschulung von Kindern beratungsresistenter Eltern, die nach Delekats Beobachtung oft möglichst früh den „Rücken frei bekommen“ und das Kind „versorgt wissen“ wollen. „Viele arabische Eltern denken in ganz anderen Kategorien“, sagt der Mediziner. Sie glaubten, die Schule sei „für alles zuständig“. Oft sollten Kinder auch gleichzeitig mit Freunden oder Cousins und Cousinen eingeschult werden. Furchtbar findet Delekat das, weil die Kinder emotional überfordert seien. Allein wegen der ständigen Disziplin, die die Schulsituation verlange, könnten sie Schaden nehmen. „Ein Teil ihrer Kindheit wird zu früh beendet.“ Er nennt ein Beispiel: Das Kind lag in der Schule nur auf dem Boden, weil es sich nicht eingewöhnen konnte. Es wurde wieder aus der Schule genommen. Delekat findet, man müsse „eine Bremse einbauen“, damit Eltern ihre Kinder nicht „in die Schule drücken können“. Kinder würden seit 2005 ohnehin ein halbes Jahr früher eingeschult. „Es gab immer die Möglichkeit der “Kann-Kinder“, aber die “Kann–Kinder“ von früher sind heute die Regelkinder, sie sind drei Monate jünger.“

Da ist die Senatsschulverwaltung ganz anderer Ansicht. Der Entwicklungsstand von „Antragskindern“ sei in der Regel mit dem der anderen Kinder des Einschulungsjahrganges zu vergleichen. In der Schulanfangsphase gehe es außerdem vor allem um „eine Individualisierung des Lernprozesses“. Die Lehrer würden den jeweiligen Entwicklungsstand eines jeden Kindes schon berücksichtigen.

Wie viele Kinder in einem Bezirk vorzeitig eingeschult werden, hängt sehr von seiner sozialen Zusammensetzung ab. Kreuzberg sei in dieser Hinsicht ein ganz spezieller Stadtteil, sagt Delekat, mit jener Mischung aus vielen bildungsfernen Migrantenfamilien auf der einen Seite und bildungsbürgerlichen deutschstämmigen auf der anderen. 24 „Antragskinder“ hat er in diesem Jahr untersucht. Die Mehrheit sei aus den besser gestellten Familien gekommen. „Da sind die Kinder meistens tatsächlich besonders weit in ihrer Entwicklung.“

Oft rät auch die Kita zu einer früheren Einschulung, wenn die Kinder in den Vorschulgruppen unterfordert wirken, als seien sie weit genug für die Schule. „Es ist meist eine schwierige Entscheidung“, sagt Delekat. Vor allem die Frage nach der persönlichen Reife: „Man muss jedes Mal abwägen: Ist ein Kind schlau, aber sehr verspielt, dann haut es nicht hin, wenn man es früher in die Schule schickt.“ Außerdem empfindet er die Regelung im Schulgesetz, die den 31. März als Stichtag festlegt, als zu starr. Schließlich könne ein Kind, das am 2. April geboren sei, reif genug sein, während ein anderes, das im Januar oder sogar im Herbst zuvor zur Welt kam, lieber noch ein Jahr in die Kita gehen sollte.

Salimata ist noch ein paar Monate jünger als Luana. Sie wird erst im März sechs, ist also eine der Jüngsten bei der Einschulung dieses Jahr. Aber alle Kinder aus ihrer Vorschulgruppe kommen jetzt schon in die Schule. Auch sie wollte unbedingt früher eingeschult werden. „Die Erzieher in der Kita fanden sie allerdings noch manchmal emotional etwas instabil“, sagt ihre Mutter Susanne Burkhardt. „Da hatte ich schon ein bisschen Bauchschmerzen.“ Aber die Gründe für eine vorzeitige Einschulung hätten doch überwogen: „Sie ist geistig super fit und aufgeweckt.“ Vor allem aber sollte Salimartha dieselbe, besonders fähige Klassenlehrerin wie der große Bruder bekommen. Sie übernimmt eine neue erste Klasse, weil die Klasse des Bruders an der Kreuzberger Adolf-Glasbrenner-Grundschule nach den Sommerferien auf die Oberschule wechselte.

Auch bei Luana hängt die frühe Einschulung teilweise mit dem Bruder zusammen. Keith geht in die Grundschule Alt-Stralau, weil die Mutter nicht viel von Kreuzberger Schulen hält. „Ich wollte gern, dass beide auf dieselbe Schule gehen.“ Falls Luana dort in diesem Jahr nicht angenommen worden wäre, hätte die Mutter sie vielleicht wieder in die Kita geschickt und es im nächsten Jahr noch einmal an der Wunschschule versucht, zu deren Einzugsgebiet die Familie gar nicht gehört. „So hatten wir zwei Chancen.“ Ein bisschen forciert hat sie die Sache dann aber doch. Zuerst hatte sie nämlich eine Absage von der Wunschschule bekommen, doch sie legte Widerspruch dagegen ein – und Luana bekam den gewünschten Schulplatz.

Aber eigentlich muss Luana doch gar nicht mehr in die Schule, sie kann ja schon alles, oder? „Nee, lesen kann ich noch nicht“, antwortet sie sehr ernsthaft. „Aber Rechnen kannst du schon“, sagt die Mutter und Luana macht es gleich vor: „Zwei und zwei sind vier, drei und drei sind sechs. Und fünf und fünf . . .“ Sie streckt alle Finger aus, guckt eine Weile auf ihre Hände, verkündet stolz: „zehn“ und sagt gleich darauf: „Oh! Das war ja richtig.“ Manchmal kann Luana eben auch sich selbst beeindrucken.

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