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Allein mit Diabetes: Pflegenotstand in der Schule

Kinder mit Diabetes brauchen Betreuung – in der Grundschule übernehmen das oft Pflegedienste. Wegen Personalmangels wird das in Potsdam aber immer schwieriger. Einzelfallhelfer könnten Abhilfe schaffen.

Von Valerie Barsig

Potsdam - Der Dreisatz ist ihr noch fremd: Laura ist erst im vergangenen Jahr eingeschult worden, noch beherrscht sie das mathematische Verfahren nicht. Und das ist ein Problem. Denn die Siebenjährige hat Diabetes Typ 1. Mehrmals täglich muss ihr Blutzucker gemessen werden. „Die Insulinmenge, die man dann benötigt, muss man per Dreisatz berechnen“, erklärt Lauras Mutter Lucia Díaz García. Deshalb braucht Laura in der Schule Betreuung durch einen Pflegedienst oder einen Einzelfallhelfer durch das Sozialamt. Er wird von der Arbeitsgruppe Eingliederungshilfe gestellt. Beides aber stellte Lauras Familie in der Vergangenheit vor große Probleme. Es sei beinahe ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, für Laura einen Pflegedienst zu finden, berichtet Díaz García.

„Ich war in den ersten Schulwochen beinahe täglich vor Ort, um Laura den Blutzucker zu messen und das Insulin zu verabreichen“, erzählt sie. Dafür musste sich die Mutter unbezahlten Urlaub nehmen, genauso wie für Klassenfahrten oder Schulausflüge, an denen Laura sonst nicht teilnehmen könnte. In den Hort kann Laura erst gar nicht gehen – obwohl Díaz García für die Betreuung in der privaten Ganztagsschule bezahlt. Denn: Laura hatte weder einen Pflegedienst, noch einen Betreuer.

Personalmangel im Pflegedienst: Fachkräfte unter der vorgegebenen Mindestzahl

Eigentlich hatte die Familie bereits einen Pflegedienst, der war aber kurz vor der Einschulung des Mädchens plötzlich nicht mehr erreichbar. 20 andere Dienste hätten sie kontaktiert, keiner hatte Kapazität, bei einem hatten sie dann schließlich Glück. Ähnliches berichten auch weitere Eltern mit diabeteskranken Kindern in einer Gruppe im Nachrichtendienst Whatsapp, mit denen sich Díaz García zusammengeschlossen hat – 20 Pflegedienste haben sie alle mindestens kontaktiert. „Das Problem ist, dass ein Pflegedienst pünktlich in der Pause kommen müsste“, erklärt Díaz García. „Bei älteren Menschen kommt es auf zehn Minuten nicht an, bei Laura schon.“ Wegen des Personalmangels und der schlechten Bezahlung für die Insulingabe für Kinder durch die Krankenkassen könnten das die Pflegedienste in Potsdam aber nicht mehr leisten, bestätigt auch der Leiter eines Pflegedienstes, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte.

Er hat für kurze Zeit Lauras Betreuung übernommen – dann ging der Träger in die Insolvenz. Hinzu kam, dass dem Pflegedienst die Leute fehlen – seit dem Sommer erfüllt er die von der Krankenkasse vorgegebene Mindestfachkräfteanzahl von drei Personen nicht mehr. „In Berlin verdient man einfach besser als in Potsdam“, erklärt der Leiter. Deshalb wanderten Pfleger in Scharen ab. Für einige Leistungen habe das Land Berlin mit den Krankenkassen eine nahezu doppelt so hohe Vergütung ausgehandelt. Das mache nicht nur Lauras Familie zu schaffen, sondern auch noch weiteren Familien mit Grundschulkindern, die Diabetes haben, berichtet auch Lauras Kinderdiabetologe vom „Ernst von Bergmann“-Klinikum, Torsten Grimm. „Wir nehmen wahr, dass sich seit etwa zwei Jahren die Situation zuspitzt“, sagt er. Gerade die Betreuung von Kindern mit Diabetes erfordere etwa eine halbe Stunde pro Einsatz, länger als bei älteren Menschen, erklärt er.

Sozialamt wirkt ratlos: „Natürlich versuchen wir, Hilfe zu ermöglichen“

Weil sich die Situation für Familie Díaz García verschärfte, beantragte sie parallel zu ihrer Suche nach einem Pflegedienst einen Einzelfallhelfer bei der Arbeitsgruppe Eingliederungshilfe. Ein Antrag auf Eingliederungshilfe kann dann bewilligt werden, wenn die Unterstützung eines Patienten nicht durch Dritte übernommen werden kann: Also auch, wenn wie in Lauras Fall die Eltern berufstätig sind und keinen Pflegedienst finden.

Ein rechtlicher Anspruch könne bestehen, bestätigt auch Frank Thomann, Fachbereichsleiter Soziales und Gesundheit der Stadt. Jeder Einzelfall werde genau geprüft – acht solcher Anträge seien seit 2016 beim Sozialamt gelandet, sagt er. Vier davon habe man an die Krankenkasse weitergeleitet. Die sei laut Thomann auch zuständig. „Natürlich versuchen wir, Hilfe zu ermöglichen“, betont er. Das Sozialamt sei aber nicht der Kosten- oder Verantwortungsträger in einem solchen Fall. Das Grundproblem der fehlenden Pfleger müsse an der Wurzel gelöst werden. Von den vier anderen Anträgen habe man einen abgelehnt, in den anderen Fällen habe man entweder nichts mehr gehört oder eine Lösung gefunden.

Hilfe bei Diabetes: Der Abstand zwischen Ansprüchen und der Realität in Potsdamer Schulen liegen weit auseinander

„Zweimal hat man unseren Antrag abgewiesen“, erzählt Díaz García. Irgendwann habe man ihnen gesagt, das Amt sei nicht zuständig. „Die Begründung war, dass wir bis dahin ja auch keine Eingliederungshilfe gebraucht hätten.“ Das entspreche auch der Wahrheit. „Es war aber einfach Glück“, erklärt Díaz García. Denn die Erzieherin in Lauras Kita sei gelernte Krankenschwester gewesen und konnte das Insulin problemlos verabreichen. In Lauras Grundschule dagegen könnten die Lehrer den Part auch wegen eines höheren Betreuungsschlüssels nicht übernehmen.

„Die Eltern sind da in einer misslichen Situation“, sagt Kinderdiabetologe Grimm. Seiner Wahrnehmung nach spielten sich „Amt und Krankenkasse die Bälle wie beim Ping Pong zu“. Ein Argument vom Amt sei Grimm zufolge, dass es keinen medizinisch ausgebildeten Helfer zur Verfügung stellen könnte. „Wir bieten aber an, die Leute zu schulen“, betont der Arzt. Auch die Haftungsrisiken könnten mit einem Schreiben der Eltern geklärt werden. In anderen Bundesländern sei die Betreuung oft einfacher zu realisieren, weiß Grimm aus Gesprächen mit Kollegen. Oft helfe es auch, wenn sich Betroffene mit Vertretern von Amt und Krankenkassen an einen Tisch setzen würden, um gemeinsam eine Lösung zu finden.

Inzwischen hat Díaz García zumindest wieder einen Pflegedienst für Laura gefunden, der das Mädchen morgens und mittags betreut. „Den Hort zu besuchen, ist für Laura aber nicht möglich“, sagt die Mutter. Sie holt Laura nach ihrer Arbeit gegen 14.30 Uhr aus der Schule ab – anders geht es nicht.

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Diabetes Typ 1

Der Körper von Patienten, die an Diabetes Typ 1 erkrankt sind, kann selbst nur noch wenig oder gar kein Insulin mehr produzieren. Wegen der Gefahr von zu niedrigem Blutzucker müssen die meisten Kinder mit Diabetes Typ 1 fünf- bis achtmal täglich den Blutzuckerwert messen und ihn durch das Spritzen von Insulin regulieren. Dosiert wird Insulin je nach aktuellem Blutzuckerwert, dem Kohlehydratgehalt der bevorstehenden Mahlzeit und körperlicher Aktivität – alle Faktoren wirken sich auf den Blutzucker aus.

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