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Abschluss der PNN-Serie "Wir im Staudenhof": Der Mikrokosmos

In der PNN-Serie "Wir im Staudenhof" haben wir zehn Bewohner vorgestellt. Nicht alle, die wir angesprochen haben, waren so offen wie Ludmila, Martin oder Ali. Interessant war aber jeder Besuch in dem Wohnblock, der zu einer Art Sinnbild der sich wandelnden Stadt geworden ist. Ein Rückblick.

Von Katharina Wiechers

Potsdam - Es ist Sylvia, die sich als erste traut. Die ihren Freund nach vorne zieht, direkt vor den Musiker, dessen Gesang viel zu laut aus den Boxen dröhnt und nicht nur den Vorplatz des Quartierstreffs, sondern den ganzen Staudenhof-Wohnblock beschallt. Beide Arme legt Sylvia ihrem Freund ausgestreckt auf die Schultern, wirft ihm einen tiefen, vom Bier schon etwas getrübten Blick zu, und fängt langsam an, sich zur Musik zu drehen. Es ist Frühlingsfest im Quartierstreff, es gibt Bratwurst, Waffeln und quietschgrüne Limonade. Und Musik.

Der Staudenhof in der Potsdamer Innenstadt.
Der Staudenhof in der Potsdamer Innenstadt.

© PNN / Ottmar Winter

Zu den Festen im Quartierstreff kommen sie alle zusammen, all die noch so unterschiedlichen Bewohner dieses berühmt-berüchtigten Wohnblocks. Sylvia, die gesundheitliche Probleme und schon länger keinen Job mehr hat. Ingeborg, die bis zu Rente in der Nikolaikirche geputzt hat und schon seit 16 Jahren hier wohnt. Thomas, den hier alle kennen und der noch Geschichten aus den 1980er-Jahren erzählen kann, als hier noch die Punks abhingen. Und dazwischen Syrer, Afghanen, Ghanaer – sie wohnen in den Flüchtlingswohnungen hier im Block oder haben es früher einmal.

Das Haus wird zum Fremdkörper

Er ist wie ein kleiner Mikrokosmos, in dem sich das sich wandelnde Potsdam widerspiegelt, dieser Staudenhof. Um ihn herum wird die alte Stadtmitte im klassizistischen und barocken Stil wieder aufgebaut, direkt gegenüber soll anstelle der abgerissenen Fachhochschule ein modernes Quartier mit teils historischen Fassaden entstehen. Der fast 50 Jahre alte DDR-Block wird dann noch mehr zum Fremdkörper werden – oder aber schon abgerissen sein, der Bestandsschutz gilt schließlich nur bis 2022. Die Debatte, was mit dem Staudenhof passieren soll, ob er saniert werden oder verschwinden soll, bewegt Potsdam seit Jahren. Und gleichzeitig hat die Uneinigkeit darüber einen Stillstand provoziert – seit Jahren wurde an dem Gebäude nichts mehr gemacht. Die Fassade ist an vielen Stellen dunkel verfärbt, die Farbe platzt ab. Die Briefkästen im Eingangsbereich sind verbeult, die Gänge schummrig, der Linoleumboden voller Macken. 

Die einzige wirkliche Neuerung gab es 2014, als einige der Wohnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen bereitgestellt wurden. Seitdem sehen sich die alten Bewohner nicht nur einem sich wandelnden Umfeld gegenüber, sondern auch Menschen aus arabischen oder afrikanischen Krisenregionen. 
Doch wer sind eigentlich die Menschen, die hier wohnen? Wie erleben sie den Umbau der Mitte? Was denken Leute wie Sylvia, Ingeborg oder Thomas über ihr Haus, die sich wandelnde Stadt, die neuen Nachbarn in den Flüchtlingswohnungen?  Und wer sind die Flüchtlinge selbst? Sie sind vor allem höchst unterschiedlich, wie die PNN-Serie „Wir im Staudenhof“ gezeigt hat. 

Ludmila will zeigen: Hier wohnen ganz normale Familien

Die erste, die einen Einblick in ihr Leben im Staudenhof und ihre Wohnung im siebten Stock gewährt, ist Ludmila. Zurückhaltend, fast schüchtern wirkt sie auf den ersten Blick, doch die 40-Jährige weiß viel und hat eine Meinung, mit der sie auch nicht hinterm Berg hält, hat sie einmal Vertrauen gefasst. Hier leben ganz normale Familien – diesen Eindruck will sie vermitteln, als sie ihre Wohnung vorzeigt. 

Aber nicht alle sind so offen wie Ludmila. Andere wollen gar nicht erst ein Gespräch beginnen oder sagen vereinbarte Termine kurz vorher ab – beziehungsweise tauchen einfach nicht auf. Wieder andere sprudeln nur so vor Geschichten – doch mit Name und Foto in der Zeitung? Lieber nicht. 

"Man lädt ja schon gar niemanden mehr ein"

Wie zum Beispiel die ältere Dame, die schon zu DDR-Zeiten in die Ein-Zimmer-Wohnung ihres Mannes mit eingezogen ist – und bis heute mit ihm dort lebt. Ihre Wohnung lieben die beiden: so schön zentral, und mit dem wenigen Platz arrangiert man sich eben. Und außerdem: eine größere Wohnung müsste man eben auch länger putzen! Nur über den Zustand des Hauses empört sich die Frau, „man lädt ja schon gar niemanden mehr ein“. An den Flüchtlingen stört sie sich nicht, da seien die Befürchtungen nicht wahr geworden, räumt sie ein. 

Ähnliches erzählt auch Helga, die seit 20 Jahren eine Ein-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock bewohnt. Sie hat kein Problem damit, für die Zeitung fotografiert und befragt zu werden und gibt auch offen zu, dagegen gewesen zu sein, als damals die Flüchtlinge einzogen. Und die 78-Jährige kann genauso offen zugeben, sich getäuscht zu haben. Es ist eben nicht laut geworden, zumindest nicht lauter als vorher. Und grüßen würden die neuen Nachbarn auch sehr freundlich, darauf legt die Dame wert, wenn sie mit ihrem Rollator zum Aufzug schlurft. 

Abenteuerliche Aufzüge

Apropos Aufzug: Zwei Stück gibt es im Staudenhof, nebeneinander fahren sie hinter der Concierge-Kammer rauf und runter. In einem der beiden ist es so gut wie dunkel, im anderen schummert wenigstens ein bisschen Licht. Seltsam riechen tun sie beide – doch bei sieben Stockwerken nimmt man das in Kauf. 

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Wer oben ankommt und die langen Gänge mit knapp 30 Türen links und rechts entlang geht, wird mit spektakulärem Ausblick belohnt. In Richtung Norden kann man die Hauptpost und den Platz der Einheit überblicken und hinter den Häusern den Turm der St. Peter und Paul Kirche hervorspitzen sehen. In Richtung Süden hat man die Kuppel der Nikolaikirche quasi vor der Nase, nach Osten geht der Blick – nicht ganz so spektakulär – zu den Wohnblocks an der Burgstraße. Nach Westen zeigen die Balkone direkt auf die sich wandelnde Mitte. 

Vor den Augen der Bewohner wurde hier im vergangenen Jahr mit schwerem Gerät die Fachhochschule abgerissen, die in den 1970er-Jahren fast zeitgleich zum Staudenhof-Wohnblock entstanden war. Zuvor konnten die Westseitenbewohner beobachten, wie die Bibliothek grundlegend saniert wurde und vom DDR-Bau im Stil der Fachhochschule zum modernen Zweckbau mit viel Weiß, Grau und Glas wurde. Seitdem schaut man vom Staudenhof aus auf eine riesige weiße Brandmauer – weil hier eines Tages die Neubauten der Potsdamer Mitte anschließen sollen.

Im Quartierstreff muss erstmal keiner irgendwas

Auf die Brandmauer blickt auch Tatjana von ihrem Arbeitsplatz aus. Im Erdgeschoss des Staudenhofs betreibt sie den Quartierstreff, jeden Tag ab 12 Uhr steht bei ihr die Tür für jedermann offen. Lange alleine bleibt Tatjana nie, der großzügige Raum mit den riesigen Fensterscheiben ist tatsächlich ein Treff für die Nachbarn geworden. Wer hier reinkommt, muss erstmal gar nichts. Sich nicht vorstellen, nichts bestimmtes tun, nichts konsumieren, mit niemandem reden. Wer möchte, bekommt für 30 Cent einen Kaffee, mit dem er sich alleine auf einen der bunten Stühle setzen und die Wimpel an der Decke betrachten kann. Oder an den Tresen, wo man schnell mit anderen Gästen ins Gespräch kommt. Und Tatjana. 

Sie hat ein großes Herz. Wenn sie Not erkennt, hilft sie ohne zu zögern. Sie sieht sofort, wenn es jemandem nicht gut geht, kocht einen Tee oder hört einfach zu. Aber sie kann auch streng sein, erträgt keine Ungerechtigkeit, keine Faulheit, keine dummen Ausreden. Manchmal sind ihr ihre Pflanzen am liebsten, um die sie sich täglich kümmert. Um die vielen Töpfe an den Fenstern und die großen Betontröge auf dem Vorplatz, die einst Teil des namensgebenden Staudenhofs waren. Als die FH abgerissen wurde, verschwand auch die grüne Oase vor dem Quartierstreff, Tatjana kümmert sich jetzt um die Überbleibsel. Stolz zeigt sie die vitalen Büsche, die längst über jede Begrenzung hinausgewachsen sind, die Vergissmeinnicht und Stiefmütterchen, die jetzt im Frühling so schön blühen. Die halbe Nachbarschaft war schon bei Tatjanas Pflanzaktionen beteiligt, quasi eine Art teambildende Maßnahme – nur dass hier niemand solche Worte benutzt. 

Tatjana weiß, was Flucht bedeutet

Die Themen im Quartierstreff sind oft andere. Immer wieder geht es um Arbeitslosigkeit, um komplizierte Formulare, Wohnberechtigungsscheine. Um familiäre Probleme, um Krankheit. Oder um Flucht. Tatjana ist selbst vor vielen Jahren unter Lebensgefahr aus ihrer Heimat, der Krim, nach Deutschland geflohen, mit ihrem Mann und den Kindern. „Ich weiß, wann mir jemand eine Geschichte auftischt und wann er die Wahrheit spricht“, sagt sie und wischt mit dem Lappen noch einmal über die längst glänzende Arbeitsfläche der roten Einbauküche hier im Quartiertstreff. Aber natürlich wird in diesen Räumen auch gelacht und manchmal sogar getanzt und gesungen. Wenn R.E.M. im Radio läuft, dreht Tatjana auf. 

Dass das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern hier so gut funktioniert, hat sicher auch mit diesem Ort im Erdgeschoss zu tun. Hier kommen sie nicht nur zu den Festen zusammen, hier haben die Menschen auch sonst einen Ort zum Ausweichen, wenn es in den kleinen Wohnungen zu eng wird. Hier treffen sie sich zum Quatschen, hier verabreden sie sich, um gemeinsam woanders hinzugehen, hier finden für die Flüchtlinge Deutschkurse und Beratungen statt. Andere Bewohner wie Martin kommen einfach nur auf einen Kaffee vorbei – immer Gefahr laufend, von Tatjana zum Blumenkübelschleppen verdonnert zu werden. 

Ein weiterer Anlaufpunkt für alle Bewohner ist der Concierge, der im Eingangsbereich gleich neben dem Quartierstreff sitzt. Der jetzige ist erst seit Anfang des Jahres da, aber er kennt schon die meisten Bewohner. Mit seinem rheinischen Gemüt bringt er fast alle zum Reden, das Lachen unter seinem Schnauzer ist ansteckend. Er hilft auch mal aus, wenn was in der Wohnung kaputt ist oder vermittelt zwischen den Bewohnern. 

Rasierklingen unter den Armen

Für jeden hat er einen Spruch auf den Lippen. „Steh doch nicht so da, als hättest du Rasierklingen unter den Armen“, sagt er etwa mit einem Augenzwinkern zu einem Bewohner Ende 30, der gerade mit seinem Fahrrad ankommt. Der Mann war Arbeiten, wie immer Nachschicht, jetzt muss er erstmal Schlafen. Nein, in die Zeitung will er nicht, aber er weiß, wo die älteste Bewohnerin des Staudenhofs wohnt, Erstbezug 1971. „Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen!“ 

Tatsächlich ist es möglich, den Aufzug zu zweit und mit auf dem Hinterrad aufgestelltem Fahrrad zu benutzen, auch wenn man sich ziemlich nahe kommt. Trotz schlechter Beleuchtung ist jetzt auch der „Bärgida“-Button am Kragen des Mannes zu erkennen. Ob man ihn auch zu den Flüchtlingen im Haus fragen sollte? Da rumpelt die Aufzugtür auf. „Hier ist es“. 

Gehört hat von den Abrissplänen jeder einzelne

Die Dame ist zu Hause, doch reden will sie auch nicht. Sie habe schon alles zu dem Thema gesagt. Jetzt warte sie auf eine Entscheidung. Sie meint eine Entscheidung über den drohenden Abriss, von dem wirklich schon jeder einzige Bewohner hier gehört zu haben scheint. Sogar Baghlani aus Afghanistan oder Ali aus Pakistan, zwei der jungen Männer aus den Flüchtlingswohnungen. Beide übrigens sofort bereit für einen Besuch in der Wohnung, sofort bereit, alle neugierigen Fragen zu beantworten. Auch wenn sie die Emotionalität der Debatte um den Plattenbau wohl kaum nachvollziehen können. Für sie ist es ein altes Haus in einem modernen Land. 

Auch bei manchen Menschen, die den Wohnblock auf östlicher Seite passieren, ist ein Kopfschütteln zu beobachten. Womöglich waren sie gerade in der Picasso-Ausstellung im Barberini und wollen sich jetzt noch das Holländische Viertel ansehen – der direkte Weg führt dann am Staudenhof vorbei. 

Die wenigsten von ihnen werden wissen, wie in Potsdam um diesen Bau gerungen wird. Warum er seit Jahren verkommt und welche Symbolkraft er für die Stadt hat. Und vor allem: Wer hier wohnt. (mit Jana Haase)

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