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Anne Rehfeld mit ihren Großeltern Eva und Günther Herrmann, aufgenommen im Wiener Café in Potsdam anlässlich des 83. Geburtstages ihres Opas.

© privat

Abschiednehmen war nicht möglich: Günther Herrmann starb vor einem Jahr an Corona

Er war einer der ersten Opfer der Pandemie in Potsdam - infiziert hatte er sich im Bergmann-Klinikum. Seine Enkelin erinnert sich.

Von Carsten Holm

Potsdam - Günther Herrmann ist 86 Jahre alt, und trotz einiger gesundheitlicher Blessuren hat er es mit großer Lebensfreude bis ins hohe Alter geschafft. Am 24. März vergangenen Jahres aber geht es ihm plötzlich ziemlich schlecht. Er fühlt sich so schwach, dass seine zwei Jahre jüngere Frau Eva sich große Sorgen macht und den Notruf wählt. Ein Notarzt lässt den betagten Potsdamer von der Wohnung nahe des Hauptbahnhofs ins Ernst-von-Bergmann-Klinikum bringen. 

Die Ärzte zeigen sich ratlos, weil die Diagnose unklar ist. In der Stadt sind zwar die ersten Corona-Fälle aufgetreten, aber der alte Herr hat sich, wie ein Test ergibt, nicht infiziert. Dennoch verschlechtert sich sein Zustand zunehmend, seine Familie rechnet mit dem Schlimmsten. Herrmann wird in ein Einzelzimmer gebracht. Zwei Tage später, am 26. März, kommt seine Frau in die Klinik, um sich von ihm zu verabschieden.

Der Zustand stabilisiert sich

Was dann geschieht, scheint wie ein kleines Wunder zu sein. Völlig überraschend können die Mediziner den alten Mann wieder aufpäppeln. Er kommt zu Kräften, es gibt wieder Hoffnung. „Mein Opa schien dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein“, erzählt seine Enkelin, die 27 Jahre alte Anne Rehfeld, den PNN. Als sich sein Zustand stabilisiert, verlegen ihn die Ärzte in ein normales Zweibettzimmer in der Geriatrie.

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Niemand ahnt, dass dies das Todesurteil für Günther Herrmann bedeutet. Das Zimmer gehört zu der Station, in der es zum größten Covid-19-Ausbruch im Bergmann-Klinikum kommt. Die Pandemie ist dabei, sich in der Stadt einzunisten, am Abend des 26. März hat Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) bekanntgegeben, dass der erste Potsdamer dem Virus erlegen ist. Vier Tage später, am 30. März, wird Günther Herrmann positiv getestet. Da hat er nur noch neun Tage zu leben.

Anne Rehfeld und ihr Opa im Ahlbeck-Urlaub 1995.
Anne Rehfeld und ihr Opa im Ahlbeck-Urlaub 1995.

© privat

Seine Frau ruft täglich im Krankenhaus an, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Täglich rechnen die Verwandten damit, dass Herrmanns Leben zu Ende gehen wird. Am 9. April, einem Donnerstag, stirbt er. Es ist damals eine Qual für die Menschen, die dem Tod geweiht sind und vielleicht sogar noch mehr für die Angehörigen, sich wegen des strikten Besuchsverbots nicht von ihren Liebsten verabschieden zu können. 

Im Krankenhaus infiziert

„Das muss für meine Oma schrecklich gewesen sein nach den 66 Jahren, die sie mit meinem Großvater verbracht hat“, sagt Enkelin Anne Rehfeld. Es gibt noch keine Schnelltests und keine Impfungen, es ist noch nicht verbreitet, ein Sterbezimmer in einem Schutzanzug, mit Masken und Gummihandschuhen zu betreten. Es ist für die Älteren, die damals in Krankenhäusern oder Seniorenheimen völlig einsam sterben, ebenso wie für die Angehörigen die Tragödie jener Zeit.

Das Klinikum „Ernst von Bergmann“ war zum Brennpunkt des Corona-Ausbruchs in Potsdam geworden. Am 31. März hatten die Klinik-Oberen bestätigt, dass sich 33 Patienten dort infizierten – Günther Herrmann war einer von ihnen. Im Januar dieses Jahres berichteten die PNN über den Bericht einer Expertenkommission, die eine krasse Fehleinschätzung der Virusgefahr, schwere Fehler bei der Hygiene und Pflege und das Fehlen eines Plans für den Notfall aufgedeckt hatte. Die Führung wurde abgelöst, die Staatsanwaltschaft ermittelte.

Es kam heraus, dass im März und April rund 350 Patienten und Mitarbeitende des Klinikums mit dem Coronavirus infiziert wurden. Von den 47 Patienten, die von Ende Januar bis Ende April mit oder an Corona starben, waren 44 wegen anderer Erkrankungen in das Krankenhaus aufgenommen worden – Günther Herrmann war einer von ihnen.

Anne Rehfeld wollte einen Rechtsanwalt mit dem Fall ihres Großvaters beauftragen. „Er ist ja ohne sein Zutun in der Klinik infiziert worden“, sagt sie. Doch der Anwalt ermutigte sie nicht, schwierige Beweislage, hieß es.

Erinnerungen. Blick in ein frühes Fotoalbum von Günther Herrmann.
Erinnerungen. Blick in ein frühes Fotoalbum von Günther Herrmann.

© privat

Bei der Beisetzung lief „Griechischer Wein“

Als sich in der Bevölkerung schon panikartige Verhaltensweisen ausgebreitet hatten, als die Regale mancher Supermärkte schon leergefegt schienen und Klopapier, Nudeln, Reis und Konserven gehamstert wurden, wurde Günther Herrmann am 21. April auf dem Potsdamer Hauptfriedhof beigesetzt. Erlaubt war nur die Teilnahme von höchstens zehn Verwandten und Freunden. Sie hörten den Schlager, der Herrmanns Lieblingslied war: „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens.

Anne Rehfeld, die nach ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement in der Digitalagentur Berlin Unternehmen bei der Digitalisierung unterstützt, spricht mit großem Respekt von ihrem Großvater. Er hatte das Bäckerhandwerk gelernt, hatte sich dann zu DDR-Zeiten in der damaligen Transportpolizei, der Bahnpolizei, vom Wachmeister zum Hauptkommissar hochgearbeitet. Mit seiner Frau, die als Schneiderin arbeitete, hatte er vier Kinder. „Er war ein aufmerksamer, herzlicher Mensch“, sagt seine Enkelin, „er hat meiner Oma zum Geburtstag, zu Weihnachten und zum Valentinstag immer Briefe geschrieben. Seine Anrede: Mein Evchen.“

Die Herrmanns reisten viel

Die Herrmanns hatten keinen Führerschein, reisten aber viel. Vor der Wende nach Moskau, Minsk, Budapest und Prag, dann nach Griechenland, Spanien und Italien.

Als Günther Hermann in den letzten zehn Jahren seines Lebens Dialyse-Patient wurde, suchte er mit seiner Frau nach Hotels an der Ostseeküste, in deren Nähe er sich behandeln lassen konnte. „Meine Großeltern hatten ein schönes Leben zusammen, auch, als sie gesundheitlich angeschlagen waren“, weiß Anne Rehfeld.

Sie hält einen Moment inne, bevor sie sagt: „Wir haben uns gefragt, ob der Tod für meinen Opa letztlich eine Erlösung war. Aber so redet man sich den Tod schön. Alle hätten ihm gewünscht, anders zu sterben als an Corona: ohne jede Schuld daran und so allein.“

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