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In Ruinen. Paul August zeichnete im Auftrag der Stadt das Alte Rathaus, im Hintergrund der Palast Barberini.

© Sammlung Potsdam Museum/Repro: Holger Vonderlind

75. Jahrestag der "Nacht von Potsdam": „Es war wie ein Untergang der Welt“

Werner von Kieckebusch hat die Bombennacht erlebt, den Kampf um Potsdam und die Wirren der Nachkriegszeit – er war Zeuge vomEnde des „Alten Potsdam“. Jetzt wird seinTagebuch aus den Jahren 1945/1946 veröffentlicht.

Potsdam - Es sind Szenen, die man so schnell nicht wieder vergisst: Wie der Erzähler in den letzten Kriegstagen seine Nachbarin und deren Sohn leblos im Garten in der Jägerallee liegen sieht, erschossen. Wie er in seiner Wohnung im Mietshaus in der „Mausefalle“, unweit der Kreuzung von Jäger- und Hegelallee, Ohrenzeuge mehrerer Vergewaltigungen durch russische Soldaten wird. Wie er in den Ruinen der ausgebrannten Konservenfabrik Zinnert zwischen Türk- und Holzmarktstraße nach Essbarem sucht und Büchsen mit Teltower Rübchen und Sellerie aus der Asche klaubt, so heiß, dass er sie kaum anfassen kann. Wie er in einem Arbeitskommando in den Nachkriegstagen eine schon aufgequollene Wasserleiche aus dem Heiligen See ziehen und in der Böschung unweit der Kurfürstenstraße vergraben muss. Wie er eine Flasche edlen Rotwein auf dem Schwarzmarkt gegen ein Pfund Butter tauscht, Marktwert 900 Mark. Wie die notdürftig unterm Rasen am Jägertor verscharrten deutschen Soldaten Monate später exhumiert und zum würdigeren Begräbnis abtransportiert werden, mit Fliegenschwärmen über den Särgen. Wie Trecks mit Flüchtlingen aus dem Osten durch die Stadt ziehen, „lauter Handwagen mit geradezu sichtbar dahinsterbenden kleinen Kindern“. Aber auch: Wie der Erzähler nach kilometerlangen Wanderungen zum Fahrländer Gärtner Kania mit Spargel, Rhabarber, Stachelbeeren oder Kirschen bepackt zurückkehrt, ein kleines Stück Glück.


Der Potsdamer Werner von Kieckebusch hat all das in seinem Tagebuch aufgeschrieben. Unter dem Titel „Ich traue dem Frieden nicht“ sind seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1945 und 1946 jetzt im Herder-Verlag als E-Book erschienen, am 29. Juni folgt die gedruckte Ausgabe. Das Buch gibt einen Einblick in den Alltag in Potsdam unter den Zumutungen des Krieges und in der von Unsicherheit, Sorgen und Not geprägten Zeit danach. Kieckebusch zeigt sich dabei als genauer Beobachter, der in klaren, einfachen Worten schildert, was ihm widerfährt. Selbst angesichts der aussichtslos chaotischen Zustände bewahrt er sich dabei auch einen feinen Sinn für Humor, für groteske Details, für Momente der Freude.

Exemplarisch für "das Los einer Generation im Ausnahmezustand"

Der Name Werner von Kieckebusch dürfte heute in Potsdam kaum jemanden geläufig sein, seinerzeit war der 1887 in Kassel geborene Sohn eines Offiziers und einer vermögenden Industriellentochter aber offenbar bestens in der „guten Gesellschaft“ der Stadt vernetzt. 1933 ist er mit seiner zweiten Frau Annelie und den 1924 und 1926 geborenen Söhnen – aus erster Ehe hatte er auch eine Tochter – nach Potsdam gezogen. In der wirtschaftlichen Not der 1920er-Jahre war er zuvor mit dem seit 1909 aufgebauten Landgut Altgaul bei Wriezen gescheitert. Aus vermögender Familie stammend, konnte er in Potsdam aber gut bürgerlich leben, wohnte in der Jägerallee 40. Kieckebusch war erklärter Monarchist, er pflegte freundschaftliche Verbindungen zu den preußischen Prinzen, einen großen Bekanntenkreis. Und er war Genießer, einer, dem schon das Fehlen seiner geliebten Zigarren seelisch zusetzte. „In Ermangelung jeglichen Tabaks rauche ich heute einen dänischen Tee in der Pfeife – er stinkt wie ein versengter Weihnachtsbaum, aber TROTZDEM!!“, notiert er im Juli 1945.

Beruflich betätigte Kieckebusch sich als Ahnenforscher, arbeitete unter anderem an Familienchroniken, schrieb eine Geschichte des Klosters Heiligengrabe. 1938 trat der der NSDAP bei, gezwungenermaßen, wie er es im Tagebuch schildert: Nur als Mitglied in Partei und Reichsschrifttumskammer hätten seine Bücher gedruckt werden können. Dass das Unheil, das die Potsdamer in den letzten Kriegstagen und danach ereilt, eine direkte Folge der Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg ist, macht er im Tagebuch an mehreren Stellen deutlich: „Die Russen holen alles fort, wie wir es in Russland auch taten!“ Kieckebusch wirkt verbindend in seinem weiten Verwandten- und Bekanntenkreis, pflegt Briefkontakte, gegenseitige Besuche, kleine Geschenke, selbst in der ärgsten Not. Auch mit den in der eigenen Wohnung einquartierten Flüchtlingsfamilien arrangieren sich die Kieckebuschs. 1942 fiel der ältere Sohn Hubertus im Krieg, der Jüngere, Burkard, bleibt verschollen – die Sorge um sein Schicksal ist eines der Leitmotive in den Tagebüchern. Erst 1966 verließ Werner von Kieckebusch die „Mausefalle“ und Potsdam und zog mit seiner Frau ins Johanniterstift in Berlin-Lichterfelde, wo er 1975 im Alter von 87 Jahren starb.

Potsdamer Alltag in Kriegszeiten aus der Innensicht

Dass sein Tagebuch nun öffentlich wird, ist einem familiären Zufall zu verdanken. Herausgeber ist der Mann von Kieckebuschs Urenkelin, der Journalist Jörg Bremer, langjähriger Korrespondent und Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Schicksal des Potsdamer Urgroßvaters habe in seiner Familie lange gar keine größere Rolle gespielt, sagte er den PNN. Zwar waren die Eckdaten bekannt, Fragen habe man sich aber kaum gestellt. Bis seine Frau Christiane das Tagebuch, ein Ordner mit eng und beinahe fehlerlos getippten Seiten dünnsten Papiers, von ihrer Mutter bekommen hat – und von der Lektüre sofort gefesselt war. Von Interesse ist das Tagebuch auch für ein breiteres Publikum: Das Schicksal der Kieckebuschs steht, so formuliert es Jörg Bremer in seinem Vorwort, „für das Los einer ganzen Generation im Ausnahmezustand“ – einem Zustand, der mit Kriegsende längst nicht beendet sein sollte.

Den Potsdamer Leser berühren die Aufzeichnungen womöglich noch unmittelbarer. Denn an Straßen, Orten, Plätzen, die jeder kennt, spielt sich Beklemmendes ab. Etwa, wenn eine Pferdekutsche in der heutigen Hegelallee, damals noch Kaiser-Wilhelm-Straße, im Kampf um Potsdam im April 1945 von einem Tiefflieger getroffen wird, vier Pferde ums Leben kommen und die Anwohner, sobald die Luft rein ist, das Fleisch von den Knochen schneiden. „Ich sah mir die Bescherung heute Nacht mal an, leider hatte ein Feinschmecker schon die beiden Zungen herausgelöst. Pech! Ich hätte sie mir gern geholt“, notiert Kieckebusch und macht so ohne viel Worte den Hunger begreiflich. Was es heißt, in Kriegszeiten zu leben, wird hier aus der Innensicht eines Betroffenen geschildert, für den es das haltende Gerüst einer Einordnung des Erlebten in den Lauf der Geschichte noch nicht gibt.

"Alles, alles ein einziges Flammenmeer und Trümmerfeld"

Auch von der Bombennacht am 14. April 1945 schreibt Kieckebusch, selbst wenn sein Tagebuch erst zehn Tage später einsetzt. Am Jahrestag der Bombardierung 1946 blickt er zurück auf den Angriff, „der ein Drittel des schönen alten Potsdams ins Schutt und Asche legte“. Zitternd habe er mit den Nachbarn im Keller gesessen: „Die Einschläge kamen immer näher, das Haus zitterte in allen Fugen, ein großer Teil unserer Scheiben ging kaputt. Ich war mir eigentlich klar, dass in dieser Stunde mein Leben ein Ende finden würde, dachte nur an meine geliebten Kinder und dass sie elternlos würden. Und ein ’Mach’s kurz!’ war mein Flehen“, schreibt er. Das Haus blieb verschont. Beim anschließenden Rundgang durch die Stadt erlebte der 57-Jährige ein Inferno, im Tagebuch zählt er die unzähligen zerstörten und brennenden Gebäude auf: Bahnhof, Garnisonkirche, Langer Stall, Militärwaisenhaus, Stadtschloss, Rathaus, Hauptpost… „alles, alles ein einziges Flammenmeer und Trümmerfeld, in dem kopflose Menschen herumliefen, überall Todesschreie, es war wie ein Untergang der Welt“.

Auch ein Jahr später noch, notiert er, wurden „unter den Häusertrümmern die traurigen Reste der damals Verschütteten freigelegt“. Werner von Kieckebusch konnte diese Nacht nicht vergessen. Und Potsdam auch nicht.

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