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Katja Dietrich-Kröck, Sabine Schicketanz und Kai Diekmann in den coronabedingt leeren PNN-Redaktion in der Wilhelmgalerie am Platz der Einheit.

© Sebastian Gabsch PNN

70 Jahre PNN: „Haben wir, nur weil wir lokal sind, wirklich Nähe?“

Ein PNN-Werkstattgespräch mit der Leserin Katja Dietrich-Kröck, dem ehemaligen „Bild“-Chef Kai Diekmann und PNN-Chefredakteurin Sabine Schicketanz über die Bedeutung des Lokaljournalismus und seine Zukunft.

Lokaljournalismus ist unverzichtbar. Aber nicht selten unter Druck. Einstige Geschäftsmodelle schwinden. Wie kann ein Weg in die Zukunft aussehen? Worauf kommt es Lesern an? Was heißt das für Journalisten?

Sabine Schicketanz: Lokaljournalismus ist unter Druck. Immer weniger Leser abonnieren eine gedruckte Zeitung oder kaufen sie. Auflagen sinken, Anzeigenumsätze schwinden. Online ist lokale Berichterstattung stark nachgefragt. Doch selbst wenn Leser dafür bezahlen, reicht das in der Regel bislang nicht, um eine Redaktion zu bezahlen. Was sind Auswege aus dieser Klemme, Kai Diekmann?

Kai Diekmann: Der Bedarf an Lokaljournalismus wird nicht geringer, er wird größer. Das erleben wir auch jetzt in der Pandemie. Ein Grund: Bei aller Digitalisierung sind wir analoge Wesen. Wir leben analog. Alles Menschliche ist analog. So wird in einer immer unübersichtlicheren, globalisierten Welt das, was direkt um uns herum passiert, immer relevanter. Die große Krise, die wir im Journalismus haben, ist nicht eine Krise des Journalismus. 

Schicketanz: Sondern?

Diekmann: Das Geschäftsmodell Journalismus hat eine Krise. Die Digitalisierung selbst hat den Journalismus besser gemacht. Informationen sind erreichbarer. Ich kann Geschichten viel spannender erzählen, als ich das auf Papier jemals konnte. 

Schicketanz: Die Bereitschaft der Menschen, für digitalen Journalismus zu bezahlen, ist aber noch immer nicht groß. Für einen Coffee to go wird ohne weiteres Geld ausgegeben, viel seltener für Journalismus.

Diekmann: Ich bin überzeugt: Teuer erstellte Inhalte müssen auch teuer verkauft werden. Qualität wird sich auch an dieser Stelle immer durchsetzen. Ein Beispiel: Ich habe lange der Versuchung widerstanden, die Süddeutsche Zeitung digital zu abonnieren. Aber der Newsletter verspricht mir jeden Tag so gute Inhalte, dass ich am Ende bereit war, zu bezahlen. Für die PNN tue ich das schon lange. Wir müssen die Bereitschaft fördern, für Inhalte zu zahlen. Und wir müssen klarmachen, warum das wichtig ist und warum es sich lohnt. Wenn ich hier diesen Kaffee aus dem Coffeeshop vor mir auf dem Tisch sehe, habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, was er kostet. Und wenn ich mir überlege, dass es am Ende heißes Wasser mit ein bisschen Geschmack ist, und was das kostet im Vergleich zu einem Abonnement einer Lokalzeitung wie der PNN, dann ist da ein großes Missverhältnis. Wir müssen klarmachen, wie wertvoll und wie wichtig die Informationen sind, die Journalismus liefert, aber auch das Gespräch über uns selbst, das er für die Gesellschaft organisiert – und das im Lokalen natürlich noch viel wichtiger ist. 

Kai Diekmann, ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber der "Bild"-Zeitung,  ist überzeugt, dass teuer erstellte Inhalte auch teuer verkauft werden müssen.
Kai Diekmann, ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber der "Bild"-Zeitung,  ist überzeugt, dass teuer erstellte Inhalte auch teuer verkauft werden müssen.

© Andreas Klaer

Katja Dietrich-Kröck: Dann ist ja eigentlich alles gesagt. Wir können jetzt gehen. (alle lachen)

Schicketanz: Wenn es so einfach wäre! Ich finde wichtig zu hinterfragen, ob die Leser für digitalen Lokaljournalismus ohne Ausnahme bezahlen sollten – und ob das überhaupt realistisch ist. Viele würden vielleicht für ein digitales Abo zahlen. Aber online wollen sie Texte aus vielen Quellen lesen. Mehrere Abos kann sich aber kaum jemand leisten. Da stößt die Theorie an praktische Grenzen, oder wie sehen Sie das als Leserin, Frau Dietrich-Kröck?

Dietrich-Kröck: Alles, was Kai Diekmann zum Lokaljournalismus sagt, ist richtig. Umso mehr hat es mich frustriert zu sehen, wie bei diesen Informationen, die so wichtig sind, über die Jahre immer mehr gespart wurde. Ich brauche die PNN oder die MAZ nicht für das große Weltgeschehen. Dafür haben wir zum Beispiel die Süddeutsche in Papierform. Ich möchte von den lokalen Zeitungen wissen, was hier in Potsdam passiert. Doch genau das geschieht immer weniger. Bei der MAZ ging das gefühlt schon eher los. Plötzlich gab es keine Kulturseite mehr. Und es war zu merken, dass kaum noch freie Journalisten bei Veranstaltungen vor Ort sind. Die Informationen werden immer dünner, was am Ende dazu führt, dass man weniger bereit ist, dafür auch zu bezahlen. 

Diekmann: Wie lesen Sie die PNN?

Dietrich-Kröck: Als E-Paper, die MAZ über das digitale Plus-Abo. Papier täglich führte bei uns zu einem riesigen Stapel Papiermüll und der Frage am Ende der Woche: Wie viel haben wir denn jetzt tatsächlich gelesen? Auch, weil online vieles vorab berichtet wird, was man einen Tag später ja auch nicht mehr nachlesen muss. Es ist ein unschöner Kreislauf: Das, wofür ich bezahlen würde, wird eingedampft, und gleichzeitig wird es immer schmaler, eben weil nicht genügend bezahlt wird. Dass viele nicht für Online-Journalismus bezahlen wollen, liegt sicher auch daran, dass fast alle Printmedien ins Digitale gegangen sind, ohne dass sie uns zunächst genötigt hätten zu zahlen. Deshalb dachte auch ich lange Zeit: Wie? Jetzt soll ich plötzlich für etwas zahlen, dass ich jahrelang so konsumieren konnte?

Schicketanz: Doch es hat sich jetzt für Sie verändert?

Dietrich-Kröck: Ja, inzwischen zahle ich gern für Informationen, die mir wichtig sind. Und damit komme ich auf den erwähnten Kaffee zurück: Den leisten wir uns jeden Tag, und für die Arbeit von Journalisten will ich nicht bezahlen? Mittlerweile werde ich regelrecht aggressiv, wenn auf Facebook über Texte hinter der Bezahlschranke gemeckert wird nach dem Motto: „Ja, so eine wichtige Information habt ihr hinter der Paywall.“ Dann denke ich: Leute, ihr geht ins Restaurant, ihr bezahlt selbstverständlich für das Essen und sagt auch nicht zum Koch, ich möchte nur mal kosten. Ich kann es nur wiederholen: Ich bin bereit zu zahlen – ausschlaggebend ist die Qualität. Wenn die Relevanz, die Qualität der Beiträge stimmt und die Art und Weise, wie sie geschrieben sind. Dann ist es am Ende vielleicht auch nicht mal entscheidend, ob der Lokalteil acht Seiten hat oder nur vier.

Schicketanz: Sie haben drei Abos, Frau Dietrich-Kröck. Das ist vermutlich weit über dem Durchschnitt. 

Wir müssen die Bereitschaft fördern, für Inhalte zu zahlen. Und wir müssen klarmachen, warum das wichtig ist und warum es sich lohnt.

Kai Diekmann

Dietrich-Kröck: Das könnte sein. Ich beobachte, dass sich mein Verhalten bei der Mediennutzung insgesamt verändert hat. Früher war ich jeden Morgen erst einmal auf Spiegel Online, pnn.de oder MAZ-Online. Inzwischen kommen die Nachrichten gewissermaßen zu mir: über Push-Nachrichten, aber bei mir auch sehr viel über Facebook. So sehe ich morgens in meiner gefilterten Blase – was natürlich durchaus auch risikobehaftet ist – was über Nacht passiert ist und kann mir einen ersten Überblick verschaffen. Oder ich lese den Newsletter der PNN „Potsdam Heute“ oder gern auch den Checkpoint-Newsletter des Tagesspiegels. Den hatte ich, ehrlich gesagt, zufällig mitgebucht, aber mir gefällt dieser subjektive, pointierte, mitunter sehr amüsant zusammengefasste Überblick über das Nachrichtengeschehen. Das sind neue Ansätze, die für mich das Angebot einer Tageszeitung spannend machen. Und wenn dann auch analog der Bezug zum Leser hergestellt wird, durch gemeinsame Fahrradtouren oder Jogginggruppen – auch wenn das beides für mich nicht die unbedingt die passenden Gruppen wären – kann sich eine ganz enge Bindung entwickeln. Das kann ein Stadtteil-Blog oder ähnliches nicht so gut, das kann nur eine Tageszeitung. 

Diekmann: Diese Kostenlos-Kultur, von der Sie sprachen, war übrigens ein Stück weit ein Betriebsunfall. Es gab die Notwendigkeit, den digitalen Raum zu besetzen, aber keine zuverlässigen Bezahlsysteme. Deswegen ging es erst einmal gar nicht anders. Mit „Bild“ sind wir 2013 mit die erste Medienmarke gewesen, die gesagt hat: Wir verlangen für unsere Inhalte Geld. Viele haben uns damals für verrückt erklärt. Das macht doch gar keinen Sinn, haben sie gesagt, es gäbe doch so viele Informationen im Internet, dass keiner bereit sein werde, dafür Geld zu zahlen. Doch spätestens, nachdem ich gesehen hatte, dass Leute bereit sind, für Klingeltöne zu bezahlen, war ich überzeugt, dass wir es durchaus mal mit Inhalt versuchen können. Und das hat komplett funktioniert. „Bild“ hat heute mehr als 500.000 voll zahlende Digital-Abonnenten. Auch beim Fernsehen sind die Zuschauer bereit, für Inhalte zu zahlen, trotz Privatfernsehen. Es ist ganz klar kein Weg, der von vornherein ausgeschlossen ist. 

Schicketanz: Absolut richtig. Und doch bleibt es wahnsinnig schwer, Lokaljournalismus als tragfähiges Geschäftsmodell zu betreiben. In Skandinavien hat man reagiert und fördert insbesondere Lokalmedien staatlich. Manchmal fürchte ich, wenn wir uns nicht bald ähnliches überlegen, könnte es für einige zu spät sein. Journalismus ist im besten Sinne systemrelevant. Gleichzeitig verschwindet immer mehr Meinungsvielfalt, nicht nur in der Fläche. 

Diekmann: Ich bin kein Freund von staatlicher Förderung. Insbesondere nicht, wenn wir über Zeitungen oder Medien sprechen, die tagesaktuell erscheinen. Aber ich möchte etwas aufgreifen, was Sie vorhin erwähnt haben, Frau Dietrich-Kröck: den Stadtteil-Blog. Das finde ich ein ganz spannendes Instrumentarium. Wer kennt sich in Potsdam am besten aus? Die Journalisten der Potsdamer Neuesten Nachrichten und die Kollegen von der Märkischen Allgemeinen. Sie sind meine Augen in der Stadt, sie gehen für mich in die Stadtverordnetenversammlung und informieren mich darüber, was hier wichtig ist. Wer aber kennt sich in der Berliner Vorstadt noch besser aus als die Potsdamer Neuesten Nachrichten? Meine Nachbarn und ich. Weil wir dort wohnen und mitbekommen, was dort passiert.

Schicketanz: Aber nicht alle Nachbarn sind Journalisten ... 

Diekmann: Ich fände es spannend, ein System zu etablieren, bei dem professionelle Journalisten nicht nur selbst schreiben, sondern versuchen, ein Team von lokalen Experten zu gewinnen, die so lokal Informationen aus ihrer Nachbarschaft recherchieren und liefern, wie es das Redaktionsteam nicht mehr kann. Der Experte spielt schon immer eine große Rolle im Journalismus – mein Beispiel ist hier immer der Finanzteil von FAZ oder SZ: Da schreiben nicht nur die Finanzredakteure, sondern Steuerexperten, Rechtsanwälte und andere. Warum sollte man das nicht analog für Lokaljournalismus umsetzen? Es gibt bereits ein solches Projekt in den USA, Sport Blog Nation. Es geht davon aus, dass der einzige Sportredakteur, den eine Tageszeitung noch hat, sich nicht um vier Sportarten und fünf Teams einer Stadt gleichzeitig kümmern kann. Also werden Fans angesprochen. Die sind nah bei ihrem Club und haben die Leidenschaft und auch die Eitelkeit, zu schreiben und zu berichten. Das Ganze ist so organisiert, dass für den Leser hochprofessionelle Inhalte geliefert werden. Bezahlt wird nicht mit Geld, sondern mit Aufmerksamkeit. Warum sollte es nicht möglich sein, dies bezogen auf Stadtteile zu organisieren? 

Journalismus ist im besten Sinne systemrelevant. Gleichzeitig verschwindet immer mehr Meinungsvielfalt, nicht nur in der Fläche. 

Sabine Schicketanz

Dietrich-Kröck: Ich bin bezüglich staatlicher Förderung in diesem Bereich sicher keine Expertin, hätte aber auch Bedenken: Wie steht es dann am Ende wirklich mit der Unabhängigkeit des jeweiligen Mediums? Wobei das bei den Öffentlich-Rechtlichen ja auch funktioniert. Vielleicht wären indirekte Förderungen, zum Beispiel über weitere Steuererleichterungen sinnvoll? Ich denke auf jeden Fall, dass wir besonders in der Fläche schon jetzt eine Situation haben, in der Lokaljournalismus unterstützt werden muss. Zufällig habe ich letztens von einem Modell in England gehört, dass ich sehr charmant fand: Dort bezahlt die öffentlich-rechtliche BBC Lokalreporter, die bei den Zeitungen angestellt sind, um sicherzustellen, dass sie aus dem ganzen Land, selbst aus dem kleinsten englischen Dorf, Informationen bekommt. Das könnte doch beispielsweise ein Ansatz für den rbb sein, der ja auch die Aufgabe hat, das ganze Land abzubilden?

Schicketanz: Das klingt nach einem guten Modell. Bei Kai Diekmanns Idee der Stadtteil-Reporter bin ich an einem Punkt zurückhaltend: In einer Stadt wie Potsdam, in der oft und gern gestritten wird und viele Haltungen aufeinandertreffen, ist es für eine Redaktion schon so nicht ganz trivial, die Vielfalt der Meinungen ausgewogen widerzuspiegeln. Bei von außen kommenden Beiträgen ist es eine sehr anspruchsvolle Aufgabe ...

Katja Dietrich-Kröck zahlt gerne für digitalen Journalismus, wenn die Relevanz und die Qualität der Beiträge stimmt.
Katja Dietrich-Kröck zahlt gerne für digitalen Journalismus, wenn die Relevanz und die Qualität der Beiträge stimmt.

© Andreas Klaer

Diekmann: ... sie einzusortieren, den Faktencheck zu machen, zu recherchieren.

Schicketanz: Journalisten sind dann in erster Linie Kuratoren und Faktenchecker. 

Diekmann: Genau das müssen sie doch auch sein. Aber es hat sich mit diesem Gerät (zeigt das Smartphone) und der Tatsache, dass heute jeder eine Kamera dabeihat, doch einiges verändert. Der zufällige Passant kann zum Zeitzeugen werden. Das nutzt doch bereits jede Redaktion; es wäre auch sträflich, es nicht zu tun. Ein Wort würde ich gern noch zur staatlichen Förderung und zum rbb sagen: Die beste staatliche Förderung wäre, die hier herrschende Wettbewerbsverzerrung zu beenden. Bei den neuen Medien, also den digitalen Angeboten, stellen wir fest, dass staatlich geförderte Medien direkt mit privaten Medienunternehmen konkurrieren. Das ist ein Problem. Wenn dann, wie es hier geschieht, das staatlich subventionierte Medium sowohl von den TV-Gebühren profitiert, als auch von den Anzeigenerlösen auf der gleichen Oberfläche wie das private Medium, ist das Wettbewerbsverzerrung. Förderung für lokale Medien wäre es, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich beim Verkauf von Anzeigen und Reichweite einschränken. Auch hier ist das Modell in England gut. Dort sagen sie: Wir haben die BBC, die lassen wir uns viel Geld kosten, aber der Reichweiten-Verkauf ist den privaten Medienunternehmen vorbehalten. Das halte ich für angemessener als eine direkte staatliche Förderung. 

Schicketanz: Ein Sprung zurück zum Stadtteil-Reporter. Wären Sie für uns dabei, wenn wir das aufziehen würden, Frau Dietrich-Kröck?

Dietrich-Kröck: Wenn ich mir die Kommentar-Kultur im Netz anschaue und mir dann vorstelle, dass diese Leute Texte für „meine“ Zeitung schreiben – schwierig. Mir persönlich fällt es durchaus nicht immer leicht, Texte kurzfristig und auch noch in entsprechender Qualität zu schreiben. Deshalb bin ich dankbar, dass es Journalisten gibt, die das professionell übernehmen. Außerdem weiß ich gar nicht, ob es aus meinem Kiez, der Nauener Vorstadt, so viel zu berichten gäbe. Aber ich denke schon, dass es Menschen gibt, die dieses Sendungsbedürfnis haben und das sehr gut machen würden. 

Diekmann: Menschen haben Mitteilungsdrang. In der guten alten Zeit haben uns die Leser viele, viele Gedichte zugeschickt, für die wir in der Zeitung keinen Platz hatten. Das müssen wir in der digitalen Welt nutzen, in der das Platzangebot nicht begrenzt ist. Wir haben bei „Bild“ den Leserreportern auch konkrete Aufgaben gestellt - und Sie glauben gar nicht, wie kreativ die Leute sind und was dann alles zurückkommt. Es gibt eine Schwarmdummheit, aber es gibt auch eine Schwarmintelligenz, eine Schwarmkreativität – die zu nutzen, finde ich für eine Redaktion zwingend.

Mittlerweile werde ich regelrecht aggressiv, wenn auf Facebook über Texte hinter der Bezahlschranke gemeckert wird nach dem Motto: „Ja, so eine wichtige Information habt ihr hinter der Paywall.“

Katja Dietrich-Kröck

Dietrich-Kröck: Aber wenn wir darüber reden, dass in Lokalredaktionen das Personal immer knapper wird, und man die Stadtteil-Reporter ernsthaft und gut betreuen will, dann muss man sich vermutlich doch auch fragen, ob das, was da herauskommt, den Aufwand aufwiegt.

Diekmann: Das Selbstverständnis von Journalisten muss sich ein Stück weit ändern. Das kuratorische Moment wird wichtiger werden. Es ist viel Inhalt da, aber es braucht Journalisten, um ihn zu ordnen und an den Leser weiterzugeben. Ein gutes Beispiel sind Industrien, die bereits digitalisiert worden sind. Die Musikindustrie hat das mit Spotify erfolgreich geschafft und erreicht fast die Erlöse der Vor-Digitalisierungs-Zeit. Was macht den Erfolg von Spotify aus? Es ist nicht nur der Algorithmus, sondern es sind die kuratierten Listen, die ich auch selbst wirklich schätze. Es gibt mir jemand eine gute Empfehlung. Das ist es auch, was den Charme eines Newsletters ausmacht. Journalisten sollten wissen, dass es nicht nur darum geht, sich selbst mitzuteilen, anderen die eigene Sicht der Welt aufzudrängen, sondern Dienstleister zu sein. Sie sollten sagen: Ich sortiere das für euch und sorge dafür, dass ihr möglichst viel Informationen aus dieser Stadt bekommt. 

Dietrich-Kröck: Aber gerade das Sortieren, das Kuratieren, führt natürlich auch dazu, dass wir uns immer mehr oder weniger auf uns selbst beziehen – egal, ob das ein Journalist macht oder ein Algorithmus. Man bekommt ein paar überraschende Anregungen, aber die große Vielfalt wird eingeschränkt. Wir bleiben am Ende in unserer Blase, wie bei Spotify in unserer Musik-Blase, weil wir nur das empfohlen bekommen, was zu dem passt, was wir vorher gehört haben.

Schicketanz: Angebot und Nachfrage sind im Journalismus ein wichtiger Punkt, und digital noch stärker: Wie sehr setzt eine Redaktion auf Inhalte, die gut geklickt werden? Wo bleibt Raum für weniger populäre, aber im Zweifel wichtigere Texte und Themen, die in einer Zeitung selbstverständlicher stattfinden, gut einsortiert und gewichtet? In vielen Redaktion kann man bereits in Echtzeit zugucken, welcher Text wie viele Abschlüsse bringt. Es wird also schwieriger, Angebot und Nachfrage im journalistischen Selbstverständnis auszubalancieren.

Diekmann: Natürlich gibt es Ereignisse, die sind so wichtig, dass man sich als Zeitung irrelevant macht, wenn man sie nicht in der Nachrichten-Hierarchie ganz nach oben hebt. Wir haben ja schon ganze Illustrierte sterben sehen, die nur noch dem süßen Gift eines bestimmten Themas gefolgt sind. Ich fände es spannend, wenn ihr mal einen Blick in den Maschinenraum zulassen würdet. Mich würde zum Beispiel interessieren, was die meistgelesenen Texte sind, die Themen, die uns hier wirklich bewegen. Ein weiterer Punkt, der mir wichtig ist, bezieht sich auf den Beginn unseres Gesprächs: Ich finde es einen Riesenfehler, dass die PNN nicht längst auf ein vernünftiges Bezahlsystem umgestellt hat. Die MAZ hat es, ihr nicht, der Leser hat die Möglichkeit auszuweichen, und das halte ich für falsch.

Schicketanz: Bei den PNN gibt es seit einiger Zeit das Modell Tagesspiegel Plus. Wir bieten dort Analysen zum politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tagesgeschehen, speziell aufbereitete Reportagen, viele Artikel zu Themen wie Gesundheit, Wohnen, Miete, Immobilienkauf, Bildung und Schule. Die Beiträge sind für PNN-Abonnenten inklusive. Darauf bauen wir auf. Wichtig ist mir, bei Leserinnen und Lesern stärker ein Bewusstsein für den Wert von Journalismus zu schaffen. Uns hier in der Redaktion wird nicht selten vorgeworfen, dass wir ja Steuergelder bekämen – was natürlich nicht stimmt, aber zeigt, wie groß der Aufklärungsbedarf ist. Insbesondere Lokaljournalismus wird oft als Teil der Daseinsvorsorge gesehen, die Lokalzeitung ist eben einfach da, genau wie Stadtverwaltung, Schule, Schwimmbad, Sportverein. Eine Studie in den USA zeigte, dass eine große Mehrheit der Menschen gar nicht wusste, dass ihre Lokalzeitung in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt. Noch zu oft gibt es kein Bewusstsein dafür, dass es hier ein Problem gibt.

Diekmann: Das Großartige aber ist, dass Lokaljournalismus technisch nicht substituierbar ist. Das, was hier vor Ort passiert, ist so unique, dass ich es durch keine Technik der Welt ersetzen kann. Das ist ein ungeheurer Wert. Ich glaube, man muss auch den Leser neu definieren und anders begreifen. Der Leser ist nicht nur der Leser einer Zeitung, sondern ein Clubmitglied. Auch sollten Lokalzeitungen darüber nachdenken, welche anderen Leistungen es gibt, für die sie als Medium vor Ort eine Kompetenz haben, die sie erbringen können. Gibt es noch andere Währungen, die interessant sind, in denen Leser bezahlen könnten? Welche Daten, die jemand zur Verfügung stellt, kann ein Medium nutzen und wiederum gewinnbringend einsetzen? Man muss die ganze Beziehung komplett neu denken. Die wichtigste Herausforderung ist: Wie kriegen wir ein vernünftiges ökonomisches Modell hin? Und was bedeutet das für das, was wir tun?

Dietrich-Kröck: Ich erinnere mich gerade an diesen Text von Peter Effenberg in den PNN. Ich glaube, das war ursprünglich ein Leserbrief. Er schrieb darüber, dass er als Ur-Potsdamer seine Stadt nicht wiedererkennt – und daraus entwickelte sich in den PNN eine große Debatte. Effenberg war der Star auf jedem Podium. So etwas macht eine Zeitung sehr besonders. In dem Zusammenhang die Frage: Wie häufig passiert es eigentlich, dass Leser Sie in die Spur schicken?

Schicketanz: Wir bekommen täglich Hinweise und Anregungen von Leserinnen und Lesern. Die Zahl ganz klarer Aufforderungen zur Recherche hat zugenommen: Kümmert euch, recherchiert, da geht was schief. Seit Corona haben wir durch unsere lokale Berichterstattung in der Pandemie einen Vertrauensgewinn erzielt.

Dietrich-Kröck: Direkte Partizipation finde ich wichtig. Der Deutschlandfunk hat ein Format, bei dem Hörer fragen oder Themen vorschlagen und Journalisten direkt antworten. Man fühlt sich mitgenommen und vertreten. Und man kann eine Gemeinschaft bilden, sich dem Medium zugehörig fühlen. Es wäre doch zum Beispiel toll, wenn es einen speziellen PNN-Kultur-Newsletter gäbe, dessen Leser und Leserinnen beispielsweise gemeinsam auch ins Theater gehen, samt Hintergrundgespräch mit den Theatermacherinnen – moderiert von der Kulturredakteurin.

Schicketanz: Ähnliches gibt es schon bei uns, unter dem Titel „PNN öffnet Türen“. Abonnenten können sich zum Besuch von Kulturveranstaltungen anmelden und dann zum Beispiel bei einer Generalprobe dabei sein und im Anschluss mit dem Dirigenten sprechen.

Diekmann: Meine Idee wäre eine tägliche Redaktionskonferenz auf Zoom oder Clubhouse, bei der ein Redakteur mit Lesern spricht: Was sollten Themen für morgen sein? Wäre ich heute noch bei „Bild“, hätte ich das längst eingeführt.

Schicketanz: Dazu passt die Frage nach den Themen, die unsere Leser am meisten interessieren. Darüber staunen wir oft, selbst eine krasse Polizeimeldung wird vielfach nicht so viel online gelesen wie eine lokale Geschichte. Und natürlich gibt es die Klassiker: Städtebau ...

Diekmann: ... Welterbeparks ... 

Dietrich-Kröck: ... Verkehr bestimmt auch.

Schicketanz: Ja, unbedingt Verkehr, aber auch alle Themen, die sich ums Wohnen drehen, das Streitthema Garnisonkirche. Immer sehr gut gelesen werden Texte zur Potsdamer Gastronomie. 

Diekmann: Das ist eine schöne Vorlage! Denn nicht nur der Leser muss sich verändern und bereit sein, für Lokaljournalismus zu zahlen, sondern auch die Zeitung muss sich verändern. Wie heißt es immer: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, und nicht dem Angler. Die Lokalzeitung muss sich als Fernbedienung verstehen, die ihrem Leser hilft, durch den Alltag zu kommen. Dazu gehört mehr als nur das Abbilden von Debatten, sondern eben auch das Kuratieren von Empfehlungen. Ein Beispiel: Auf der dritten Potsdam-Seite – dass die derzeit fehlt, ist wirklich ein Verlust – habt ihr häufig über neue Geschäfte berichtet. Das habe ich meist ausgerissen und zu meiner Frau gesagt: Katja, da müssen wir hin! Der Mensch interessiert sich für nichts so sehr wie für andere Menschen. Davon lebt unsere Branche. Das ändert sich auch durch die Digitalisierung nicht. 

Dietrich-Kröck: Sie erwähnten, Frau Schicketanz, dass die Leser häufig konkrete Vorschläge machen. Kann man das clustern, in welche Richtung diese Zuschriften gehen?

Schicketanz: Es geht in den allermeisten Fällen um das, was wirklich direkt vor der Haustür passiert. Und um Missstände in Unternehmen, Verwaltungen oder Institutionen. Nicht selten sind es anonyme Hinweise, an vielen ist etwas dran. Wir verstehen uns bereits sehr als Dienstleister. Der Leser steht bei uns mit seinem Anliegen vor der Tür und geht nicht weg, bis man sich gekümmert hat.

Dietrich-Kröck: Was ich in diesem Kontext allerdings auch negativ wahrnehme, ist die Anbiederung an den Leser. Das lässt sich vor allem in den sozialen Medien beobachten. Da wird dem Geschmack des Lesers hinterhergelaufen und dann auch noch mit entsprechenden Teasern etwas signalisiert, was in dem Text gar nicht eingelöst wird. Schwierig für mich auch: dieser permanente Negativ-Journalismus. Ich habe überhaupt nichts gegen aufwendige Recherchen, gegen die Aufdeckung von Missständen. Wenn das aber zur reinen Nörgelei verkommt, nervt es. 

PNN-Chefredakteurin Sabine Schicketanz ist es wichtig, bei Leserinnen und Lesern stärker ein Bewusstsein für den Wert von Journalismus zu schaffen.
PNN-Chefredakteurin Sabine Schicketanz ist es wichtig, bei Leserinnen und Lesern stärker ein Bewusstsein für den Wert von Journalismus zu schaffen.

© Andreas Klaer

Diekmann: Zunächst einmal ist der Journalist der Fehlersucher. Das ist Teil unserer DNA. Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns für das interessieren, was regelwidrig ist und was nicht funktioniert.

Dietrich-Kröck: Natürlich, ich möchte ja auch nicht permanent nur positive, rosarote Meldungen lesen. Aber eben auch nicht das Gegenteil, das zudem noch per Überschrift auf Dummfang setzt. Da fühle ich mich als Leserin einfach in meiner Intelligenz unterschätzt. Das nehme ich Zeitungen dann auch nachhaltig übel. Wenn ich ein paar Mal das Gefühl hatte, das ist jetzt nur für den Klick und weil die Masse danach schreit, dann gucke ich, ob ich vielleicht doch woanders lese.

Schicketanz: Wenn ich das, was hier heute gesagt wurde, richtig verstehe, ist es dennoch eine dringende Aufforderung, sehr persönlich zu sein, für noch mehr Nähe zum Leser zu sorgen.

Dietrich-Kröck: Und diese Nähe zu kultivieren. 

Diekmann: Ich stelle die alte Annahme von Nähe und Lokaljournalismus allerdings grundsätzlich infrage: Haben wir, nur weil wir lokal sind, wirklich die Nähe? Oder glauben wir das nur? Gibt es eine neue Nähe, die ich anders denken muss? Und wo kommen die neuen Leser her? Viele junge Leute gehen ja nicht irgendwann einfach freiwillig ins Theater, sondern weil sie es gelernt haben. Weil ihnen der Mehrwert klar geworden ist. Wo zeigt also eine Lokalzeitung ihren Mehrwert, wo erklärt sie sich den Jungen? 

Dietrich-Kröck: Ich habe mein Kind gefragt, 15 Jahre alt: Sag mal, bei Snapchat und Instagram und TikTok, sind da seriöse Zeitungen aufgetaucht? Seine Antwort sinngemäß: Nee, seriöse Quellen gibt's da nicht. 

Diekmann: Die sozialen Medien zu bedienen, ist extrem aufwendig. Die Inhalte müssen spezifisch sein. Bevor ich auf eine Social-Media-Plattform gehe, muss ich mir mindestens ein Format überlegen ... 

Schicketanz: ... da haben wir noch einige Meter zu gehen, das ist klar.

Diekmann: Ja, aber was die New York Times geschafft hat, das schafft ihr auch!

Mitarbeit: Sarah Stoffers

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