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300 Silben pro Minute: Schnell, schneller, Steno

Annemarie Mersch aus Potsdam beherrscht die Kunst des Stenografierens. Damit ist sie eine begehrte Fachkraft - nicht nur für den Deutschen Bundestag.

Potsdam/Berlin - Auf dem Papier entstehen Bögen, Häkchen, Kringel – Zeile um Zeile füllt Annemarie Mersch mit Zeichen, deren Sinn sich dem Laien nicht erschließt. Problemlos hält die 26-Jährige das Tempo, das der Sprecher auf ihrem Diktiergerät vorgibt. In Stenografieschrift hält sie jedes Wort fest. Rund 300 Silben pro Minute kann sie so schreiben, ohne aus dem Takt zu kommen. Ein Gespräch in normalem Tempo umfasst etwa 250 Silben pro Minute. Ruhig und konzentriert führt Mersch den Stift, ohne jede Hektik. Kein Wunder, schließlich hat sie bereits 14 Jahre Stenografieerfahrung.

Schon ihre Eltern lernten sich beim Stenografieren kennen

Schon mit zwölf Jahren lernte die aus dem Münsterland stammende Wahlpotsdamerin einzelne Buchstaben, Wörter oder gar Wortgruppen in kurzen Zeichen wiederzugeben. Den Anstoß dazu gab ihre Mutter, die Stenografie unterrichtete. Auch Merschs Vater ist begeisterter Hobby-Stenograf. Mutter und Vater lernten sich im Stenografenverein kennen. In den Sommerferien erarbeitete sich Mersch, angeleitet von der Mutter, die Grundlagen der Kurzschrift, die für sie als Kind wie eine Geheimsprache gewesen sei – und blieb mit Begeisterung dabei.

Neben Schnelligkeit sind ein gutes Sprachverständnis und Allgemeinwissen wichtig

„Auf Schnelligkeit kommt es an“, sagt Mersch. „Und auf ein gutes Sprachverständnis und Allgemeinwissen.“ Stenografie beherrschen immer weniger Menschen in Deutschland. Rund 200 Mitglieder hat der Berufsverband der Stenografen, genauer gesagt der Verband der Parlaments- und Verhandlungsstenografen. Die Fähigkeit, professionell zu stenografieren, haben vielleicht 400 Menschen in ganz Deutschland, schätzt Annemarie Mersch. Viel Geduld und Ausdauer sollte jeder mitbringen, der die Kurzschrift erlernen möchte. Bis Annemarie Mersch ihre Fähigkeiten so weit ausgebaut hatte, dass sie mühelos in Redegeschwindigkeit schreiben konnte, vergingen zehn Jahre. Einmal in der Woche trainierte sie dafür im Verein, weit häufiger noch zu Hause. „Man muss üben, üben, üben“, betont sie.

Was für Mutter und Vater Hobby blieb, ist für die Tochter rasch Berufswunsch geworden. Derzeit schreibt sie an der Masterarbeit ihres Germanistikstudiums und ist gleichzeitig Anwärterin im Deutschen Bundestag, wo sie zur Parlamentsstenografin ausgebildet wird. Hier sind ihre Fähigkeiten hoch gefragt – einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat sie bereits in der Tasche.

50 Mitarbeiter für ein Protokoll im Bundestag

Als Parlamentsstenografin muss Annemarie Mersch nicht nur die Reden der Abgeordneten wortgetreu mitschreiben. Klatschen, Zwischenrufe, Tumulte oder die Konfettikanone der Grünen nach der Abstimmung zur „Ehe für alle“ – ein Parlamentsstenograf muss mit allen Sinnen erfassen, was um ihn herum geschieht und dies zu Papier bringen. Jeden Einzelnen der 630 Abgeordneten muss Mersch kennen und zuordnen können. Der Arbeitsablauf ist streng getaktet und perfekt durchorganisiert. Mersch stenografiert fünf Minuten im Plenum, bevor sie von einem Kollegen abgelöst wird. Dann eilt sie ins Büro, diktiert einer Schreibkraft das Geschriebene, liest Korrektur, recherchiert Fakten und fügt notwendige Änderungen und Bearbeitungen hinzu. 80 Minuten später ist sie wieder im Plenum und stenografiert von Neuem. Das Protokoll, das so an jedem Sitzungstag entsteht, ist öffentlich zugänglich.

Wenn es hoch hergeht im Parlament, kann Merschs Arbeitstag durchaus auch mal länger sein. „Einmal waren es 17 Stunden“, sagt sie. Volle Konzentration ist dennoch jederzeit erforderlich – und gute Teamarbeit. Bis zu 50 Mitarbeiter schreiben mitunter an einem Protokoll, erklärt Mersch.

Zweiter Platz bei der Meisterschaft des Weltverbandes Intersteno in Berlin

Die Gemeinschaft der Stenografen ist übersichtlich, man kennt sich untereinander. „Es ist ein bisschen wie eine Familie“, lächelt Mersch. Eine Familie, die mehrmals im Jahr zusammenkommt: Vereins- und Verbandstage, Landesmeisterschaften, Deutsche Meisterschaften und schließlich Weltmeisterschaften – an all diesen Wettbewerben teilzunehmen, ist Ehrensache für die junge Stenografin. Und sie ist äußerst erfolgreich. Erst im Juli belegte sie auf der Meisterschaft des Weltverbandes Intersteno in Berlin, an der knapp 500 Stenografen und Tastenschreiber aus der ganzen Welt teilnahmen, den zweiten Platz in der Kategorie „Text correction“, in der die Teilnehmer an einem vorgegebenen Text möglichst viele zuvor festgelegte Bearbeitungsschritte innerhalb von zehn Minuten erledigen müssen. Bei den Wettbewerben ist nicht nur perfekte Stenografie, sondern auch schnelles Tastenschreiben oder eben komplexe Textverarbeitung gefordert. Mersch hat sich schon in Prag, Paris, Peking, Gent und Budapest mit anderen Text-Enthusiasten gemessen. Zur nächsten Weltmeisterschaft reist sie 2019 nach Sardinien. Auch Merschs Eltern haben sich auf einer Weltmeisterschaft kennengelernt.

Ihre Passion bringt Annemarie Mersch nicht nur rund um die Welt, sondern auch auf die Leinwand: Jüngst erhielt sie das Angebot, als ein Handdouble in einem Kinofilm mitzuwirken. Mersch sagte zu, reiste wenige Tage später nach Prag, lernte Regisseur Florian Henckel von Donnersmark kennen und stenografierte für eine Filmszene. „Wenn alles klappt, bin ich im November im Kino zu sehen“, freut sich die Stenografin. Auch wenn es nur ihre Hand ist, die im Film „Werk ohne Autor“ brilliert.

Heike Kampe

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