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Annette (2.v.r.) und Stephan Flade (l.) sowie Matthias Platzeck (SPD, r.) im Begegnungscafé in Babelsberg. Es moderierte Klara Geywitz (SPD, 2.v.l.). 

© Andreas Klaer

30 Jahre Wende: Revolution mit weißen Kreppbändern

Matthias Platzeck, Stephan und Annette Flade sprachen im Babelsberger Begegnungscafé über die Wende und Lehren aus der friedlichen Revolution für andere Länder.

Vor der Veranstaltung hatten die Besucher des Begegnungscafés Sätze gesammelt. „Die Menschen in der DDR waren sehr mutig“, steht auf einem farbigen Blatt. „Wir träumen von einer friedlichen Revolution in Syrien“, auf einem anderen. „Auch in Rumänien gab es 1989 eine Revolution, aber mit Blut“, lautet ein weiterer Satz. Etwa ein Dutzend Geflüchtete sitzen am Dienstagvormittag im bis auf den letzten Platz gefüllten Wintergarten der Freizeitstätte der Evangelischen Kirche in Babelsberg. Auf dem Podium erinnern der frühere Ministerpräsident Brandenburgs Matthias Platzeck (SPD) und das Pfarrerehepaar Annette und Stephan Flade an die friedliche Revolution, es moderiert Klara Geywitz, Landtagsabgeordnete und Kandidatin für den SPD-Bundesvorsitz. Organisiert haben die Veranstaltung Martina und Günter Kruse, Initiatoren des Begegnungscafés, bei dem sich seit dreieinhalb Jahren jeden Sonntag Geflüchtete und alteingesessene Potsdamer treffen.

Friedensbewegung in der evangelischen Kirche

Stephan Flade war früher Pfarrer in der Babelsberger Friedrichskirche – damals zentraler Ort des Protests. Gemeinsam mit seiner Frau war er in der Friedensarbeit aktiv. „Wir waren davon überzeugt, wir können unser Land so verändern, dass eine sozialistisch-demokratische Gesellschaft möglich ist“, beschreibt Annette Flade. Am 4. Oktober 1989 wollten sich Bürgerrechtler vom Potsdamer Neuen Forum in der Kirche der Öffentlichkeit vorstellen. Gerechnet hatten die Organisatoren mit einigen Hundert Besuchern – es kamen 3000. „Ich kam selbst nicht mehr in die Kirche, alles war voll“, erinnert sich Stephan Flade. Er sei dann auf dem Weberplatz geblieben und habe versucht, die Leute zu beruhigen.

Angst habe man schon gehabt, sagen alle drei. Das gewaltsame Niederschlagen von den Protesten auf dem Tian’anmen-Platz in China am 4. Juni habe diese Angst noch geschürt. „Während wir in der Kirche und auf dem Weberplatz waren, haben sich die Hundertschaften der Sicherheitstruppen aus Eiche im Karl-Liebknecht-Stadion warm gemacht“, betont Platzeck, damals aktiv in der Potsdamer Bürgerinitiative Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung (Argus). Doch es blieb friedlich.

Enthusiastische Wochen im Herbst 1989

Als dann am 9. Oktober zehntausende Demonstranten durch Leipzig zogen, ohne dass Gewalt gegen sie eingesetzt wurde, habe die Angst etwas abgenommen, so Platzeck. „Die Wochen danach waren von Enthusiasmus geprägt“, sagt er. Man habe organisiert, geplant, diskutiert. „Für den 15. November hatten wir das Karl-Liebknecht-Stadion gemietet, um über Umweltthemen zu sprechen“, erinnert sich der Politiker. Mit 15 000 Leuten habe man gerechnet. Doch dann fiel die Mauer. „Wir haben bei unserem Vorbereitungstreffen gesagt, ’können die das nicht ein bisschen später machen?’“, erzählt Platzeck lachend.

Einschneidend war auch die Besetzung der Zentrale der Bezirksbehörde der DDR-Staatssicherheit in der Hegelallee am 5. Dezember 1989. Um das zu organisieren, so berichtet Annette Flade, habe man die Telefone im Rathaus benutzt – die Apparate waren damals rar – und so Freunde und Bekannte zusammengetrommelt. „Dann haben wir im Papierladen weißes Krepppapier gekauft, das in Streifen gerissen und uns je ein Band um den Arm gebunden“, erzählt sie – als Symbol des Friedens.

Mit Konfirmanden vor die Tore der Stasi

Wie man mit der Gefahr umgegangen sei, dass so eine Aktion auch im Gefängnis in der Lindenstraße hätte enden können, will Moderatorin Geywitz wissen. „Wir wussten damals überhaupt nicht, was passieren würde“, beschreibt Flade die Unsicherheit. Doch man habe sich das nicht anmerken lassen. „Wir haben einfach die Ansage gemacht: Hier kommt jetzt keiner mehr rein oder raus. Und die haben sich daran gehalten“, sagt sie. „Die Stasi war es ja gewöhnt, Befehle auszuführen.“ Ihr Mann gab zeitgleich Konfirmandenunterricht. „Ich habe die Gruppe Konfirmanden einfach mitgenommen vor die Tore der Stasi, das war für die auch spannend“, sagt Stephan Flade.

Im Januar 1990 war Platzeck – zu dieser Zeit Vertreter am Zentralen Runden Tisch der DDR – zum ersten Mal im Westen, in Tutzing am Starnberger See. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Alt-Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hätten ihn und andere vielversprechende Talente „zu einer Schnellschulung für Politiker“ eingeladen, so Platzeck. Dort habe ihn dann der Anruf erreicht, ob er nicht Minister werden wollte. „Ich habe gezögert, gesagt, ich weiß nicht, ich bin gerade im Westen und hier ist es schön“, sagt der mittlerweile 65-Jährige. Ein ZDF-Reporter habe hinter ihm gestanden, ihm zugeflüstert, im Westen müsse man 30 Jahre auf so einen Anruf warten. „Dann habe ich ja gesagt“, und wurde für die Grüne Partei in der DDR Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett von Ministerpräsident Hans Modrow (SED).

Viele Krisen für eine Generation

In der aktuellen politischen Situation sieht Platzeck auch eine Konsequenz aus der Wendezeit. „Die Revolution ist gelungen, aber auf diese eine Generation ist wahnsinnig viel eingeprasselt“, analysiert er. Drei Währungen – Ostmark, Westmark, Euro. Die Wende war für viele ein Zusammenbruch der alten Welt. Dazu die Landflucht und sinkende Rentenbescheide. Schließlich die Wirtschaftskrise 2007/08 und Flüchtlingskrise 2015, durch die das Gefühl sich ausbreitete, der Staat kriege die Situation nicht in den Griff. „Ich will nichts entschuldigen oder kleinreden, aber in so einer Generation ist es gut, wenn 80 Prozent weiterhin Vertrauen in das politische System haben“, sagt Platzeck in Bezug auf aktuelle Umfragen. Die restlichen 20 Prozent halte er größtenteils auch für wiedergewinnbar.

Ein Patentrezept für eine friedliche Revolution könne man nicht geben, sagten die Diskutanten auf Nachfrage von Martina Kruse vom Begegnungscafé, wohl aber einige Lehren ziehen. „Wichtig ist es, die potenziellen Gegner nicht zu überfordern“, so Platzeck. Nicht sofort den völligen Zusammenbruch zu fordern, sondern schrittweise Veränderung. Zudem hätten die Organisatoren selbst damals vor jeder Veranstaltung das Motto „Keine Gewalt“ eingebläut. Annette Flade gab zu bedenken, dass die Situation in Syrien „um vieles grausiger ist als damals in der DDR“. Trotzdem appellierte sie: „Ihr dürft nicht aufhören, daran zu glauben.“

Die Botschaft scheint angekommen. So sagte Abir, eine junge Frau aus Algerien, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, beim internationalen Buffet im Anschluss, die friedliche Revolution in Deutschland sei etwas ganz Besonderes. „In Algerien gibt es gerade viele Demonstrationen, ich hoffe, sie bleiben friedlich. Wir brauchen viel Zeit, aber wir können das schaffen.“

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