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30 Jahre Mauerfall: Es gab kein Aufhalten mehr

Das Pfarrerpaar Stephan und Annette Flade hat Potsdams erste Großdemonstration vom Neuen Forum am 4. November 1989 mit organisiert. Jahrelang hatten die beiden darauf hingearbeitet.

Potsdam - Sie liefen in der ersten Reihe – und konnten es gar nicht richtig fassen. Viele tausend Potsdamer zogen am 4. November 1989 durch die Straßen der Stadt, waren dem Aufruf des Neuen Forums gefolgt. Stephan und Annette Flade erlebten das, was sie sich vorher nie vorstellen konnten: „Dass die sich alle trauen!“, sagt Annette Flade heute. Während das damalige Babelsberger Pfarrerpaar durch die Arbeit in der Kirche „ganz anders gestützt war“, wie die 69-Jährige es ausdrückt, sei es bei den meisten Demonstranten an jenem Tag um „echten Mut“ gegangen. „Zwischen Glück und Auferstehung“ habe er sich gefühlt, sagt Stephan Flade. Ungetrübt sei das Glücksgefühl aber nicht gewesen, erinnert sich der 68-Jährige. Da waren auch Sorgen: Würde die riesige Menschenmenge friedlich bleiben? Würden Stasi-Zivilbeamte Krawalle provozieren? „Deshalb sind wir auch nicht vor der Stasi-Zentrale in der Hegelallee gelaufen“, erzählt er.

Aber Potsdams erste Massendemonstration sollte friedlich bleiben. Die Polizisten, das erfuhren die Flades erst später, sollen an jenem Tag sogar unbewaffnet auf der Straße gewesen sein. Etliche Polizeibeamte seien nach der Demo auf sie zugekommen und haben ihre Zweifel am System deutlich gemacht: „Die haben uns gesagt: Wir können nicht mehr, wir wollen nicht mehr“, erzählt Annette Flade. Für sie und ihren Mann wurde es plötzlich ganz klar: „Wir merkten, es ist kein Aufhalten mehr.“ Die Bewegung, die in den vorangegangenen Monaten an vielen Stellen langsam ins Rollen gekommen war, war nun nicht mehr zu stoppen.

Jahrelang hatten die Flades, auf ihre Weise, mit ihren Mitteln, auf eine solche Entwicklung hingearbeitet. „1989 hatte einen Vorlauf“, sagt Stephan Flade heute: „Das ist nicht vom Himmel gefallen.“ 1983 war er mit seiner Frau und den beiden Töchtern aus Pritzwalk nach Potsdam-Babelsberg gekommen. Er wurde Pfarrer an der Friedrichskirche, seine Frau Dozentin an der Schule für Gemeindepädagogik im Civil-Waisenhaus in der Berliner Straße. Schon in Pritzwalk, wo sie vorher gearbeitet hatten, waren die beiden in der Friedensarbeit engagiert, riefen zum Beispiel eine Frauengruppe ins Leben. Es ging ihnen darum, einen Austausch zu ermöglichen, eine Auseinandersetzung über diese Gesellschaft. Eigentlich Selbstverständlichkeiten – aber nicht in der DDR. „Die DDR-Gesellschaft war keine Diskutiergesellschaft“, sagt Stephan Flade.

Die Flades organisierten den Rahmen für Diskussionen

In Potsdam kamen sie in eine Gemeinde mit einer langen kritischen Tradition. Die oppositionelle Bekennende Kirche hatte dort zu NS-Zeiten eine Zentrale, Pfarrer Viktor Hasse hatte in seinem Haus NS-Widerständler wie Dietrich Bonhoeffer empfangen. Ältere Gemeindemitglieder, darunter Hasses früheres Hausmädchen, erinnerten das neue Pfarrerpaar an diese Tradition. Die Flades sahen es als Verpflichtung.

Im Kirchlein Klein-Glienicke kamen sie zudem erstmals mit Menschen in Kontakt, die die DDR verlassen wollten. „Die waren sozial ohne Netz, ohne Freunde, ohne Arbeit“, erzählt Stephan Flade. Ab 1987 öffneten sie ihr Haus auch für regelmäßige Treffen von Homosexuellen. Gemeindepädagoge Hans-Georg Baaske, in den 1980er Jahren ebenfalls neu in der Babelsberger Gemeinde, schob die offene Jugendarbeit an. Die Flades erzählen von Formaten wie „Andacht konkret“ zu aktuellen politischen Entwicklungen weltweit und „Gorbatschow-Gesprächskreisen“. Sie pflegten eine Zusammenarbeit mit Künstlern, luden ausländische Gäste in die Gemeinde ein, anlässlich des 40. Jahrestages des Potsdamer Abkommens im Jahr 1985 auch ein SED-Mitglied. Das alles sei innerhalb der Kirche teilweise mit Skepsis begleitet worden, sagen sie heute. Sie sollten vorsichtiger sein, um nicht „in das Auge der Behörden“ zu geraten, bekamen sie zu hören.

Der Zulauf zu oppositionellen Treffen wurde immer größer

1989 wurde die Friedrichsgemeinde, gefördert vor allem von Hans-Georg Baaske, dann zum Treffpunkt für die „Gruppe Kontakte“, die zunächst die Wahlbeobachtungsaktion vom Mai vorbereitet. Die Treffen waren außergewöhnlich gut besucht, „von Leuten, die nicht zur Gemeinde gehörten“, erzählt Stephan Flade: „Das war schon unüblich.“

Auch für das Neue Forum öffnen die Flades ihr Haus, unterzeichnen auch den Gründungsaufruf – der Potsdamer Mitgründer des Neuen-Forums Reinhard Meinel war Gemeindemitglied. Der Zulauf zu den oppositionellen Treffen wurde immer größer: Als sich das Neue Forum am 4. Oktober in der Kirche erstmals öffentlich vorstellte, war der ganze Weberplatz voller Menschen. In drei „Schichten“ nacheinander kamen sie in die Kirche, die Flades versuchten derweil draußen, beruhigend auf die Masse einzuwirken.

Vom Pritschenwagen auf den Balkon

Die große Demonstration vom 4. November begann auf dem heutigen Luisenplatz. Eigentlich, berichtet Annette Flade, hätten die Redner von einem Pritschenwagen aus sprechen sollen. Das erwies sich aber angesichts der Menschenmenge schnell als unrealistisch. Rosemarie Stappenbeck, die Witwe des früheren Superintendenten, stellte kurzerhand ihren Balkon zur Verfügung. Elektrikmeister Gürtler baute „in Windeseile“ die nötige Technik auf, erzählt Annette Flade. Nervös sei sie gewesen.

Besonders als sie beim Blick auf den Platz sah, wie immer mehr Demonstranten mit Plakaten eintrafen – selbst gebastelt aus Pappe oder Bettlaken. „Da haben wir nochmal einen Schreck gekriegt“, sagt Annette Flade. Denn erlaubt war das nicht – und in Potsdam an jenem Tag so auch zum ersten Mal zu sehen. Die Polizei schritt aber nicht ein.

Dass die Mauer nur fünf Tage später fallen würde, das sei aber selbst an diesem Tag noch undenkbar gewesen, sagen die Flades. Als Revolution, von der heute die Rede ist, verstanden sie die Ereignisse damals nicht: „Revolutionär fühlten wir uns nicht und so sind wir auch nicht aufgetreten“, sagt Stephan Flade. So sei für sie damals immer klar gewesen, dass sie auch im Umgang mit den Behörden und Partei-Zentrale im „Kreml“ auf dem Brauhausberg auf Transparenz setzten. „Wir wollten den Sozialismus verändern und öffnen, aber wir wollten nicht, dass Köpfe rollen“, erklärt Stephan Flade.

Die Kirche verlor schlagartig an Bedeutung

Der 9. November sollte dann alles ändern. Die Kirche, die zuvor für tausende Potsdamer wichtiger Anlaufpunkt geworden war, verlor schlagartig diese Bedeutung „Wir waren wieder unter uns“, sagt Annette Flade: „Das war für uns eine schmerzhafte Entwicklung und eine erschreckende Erfahrung.“ Auch das Neue Forum wirkte überholt. Annette Flade erzählt von Lkw mit Bananen, die in der Stadt auftauchten und Menschentrauben anlockten. „Und wir standen daneben am Campingtisch mit ein paar Kopien.“ Bei der ersten freien Wahl im März 1990 sollte sich das Desinteresse am Neuen Forum auch im Wahlergebnis zeigen. Der „gesellschaftliche Glanz des westlichen Deutschlands“ sei sehr stark gewesen, so schätzt es Stephan Flade ein: „Es fehlte den Leuten an Kampfgeist und Ausdauer, um sich weiter das Eigene zu beweisen“, sagt er. „Die Mühen der Ebene wollte keiner mehr“, ergänzt seine Frau. Viele hätten sich die schnelle D-Mark und eine Lösung von der Politik erhofft. „Das konnte nur schief gehen“, sagt Stephan Flade.

Jetzt fehlt der Wille, zuzuhören

Bis 2006 wirkten die Flades in Babelsberg. Zuhause sind sie mittlerweile in der Prignitz. Bis heute sind sie aber gut in Babelsberg vernetzt, werden beim Treffen mit den PNN auf dem Weberplatz immer wieder von Passanten erkannt und angesprochen. Annette Flade engagiert sich weiter im Eine-Welt-Laden in der Karl-Liebknecht-Straße, Stephan Flade im Förderkreis Böhmisches Dorf.

Wie sich die Diskussionskultur im Land in den letzten Jahren entwickelt hat, macht den beiden heute Sorgen. Es fehle zunehmend der Wille, anderen zuzuhören, sagt Annette Flade. Auch die Art und Weise von Demonstrationen sei mit denen von 1989 nicht mehr zu vergleichen: Demos hätten heute entweder „Eventcharakter“ oder seien brutal, sagt Annette Flade. Für sie ist immer klar gewesen: „Veränderung kann man nur im Miteinander erreichen – auch mit denen, die ganz woanders stehen als wir.“

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