zum Hauptinhalt

30 Jahre Mauerfall: „Diese Angst zu verlieren, darum ging es“

Vor 30 Jahren wurde der Aufruf zur Gründung des Neuen Forums unterzeichnet, bei einem konspirativen Treffen in Grünheide. Reinhard Meinel war als einer von zwei Potsdamern mit dabei.

Potsdam - Eine gute Stunde dauerte die Fahrt von Potsdam nach Grünheide östlich von Berlin. Was Reinhard Meinel und Rudolf Tschäpe dort erwarten würde, das war ihnen nicht ganz klar, als sie an jenem Samstag in Potsdam in den alten Trabant stiegen. Die Stimmung war angespannt. Zwei aufregende Wochen lagen hinter ihnen. Am 23. August 1989 waren die beiden Potsdamer Physiker bei einem Gespräch mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley im Garten von Katja Havemann in Grünheide in den geheimen Plan eingeweiht worden, eine unabhängige Bürgervereinigung in der DDR ins Leben zu rufen. Am 9. September 1989 sollte es soweit sein, wieder im Havemann-Haus. Auf der Fahrt dorthin gingen die beiden Astrophysiker noch einmal durch, was passieren würde. Auch eine Verhaftung war nicht ausgeschlossen. „Ich hatte in Wirklichkeit mehr Angst, als ich zugegeben habe“, sagt Meinel.

Die Angst. Wenn der 60-Jährige heute über diese Zeit spricht, darüber, was ihn bewegt hat, sich in der DDR-Opposition zu engagieren, dann wird er wieder lebendig: der Staat, der seine Bürger mit Bespitzelung, Bedrohung, Lügen, Schikanen und Gewalt in Schach hielt – ein effizientes System. Dass das alles wenige Wochen später zusammenbrechen würde, war Anfang September 1989 noch nicht absehbar. Auch wenn sich der Unmut in der Bevölkerung immer deutlicher regte und die Massenflucht über Ungarn eingesetzt hatte. Meinel und Tschäpe fuhren nach Grünheide, weil sie ein Podium schaffen wollten, über das Bürger mitreden konnten, wenn es um Veränderungen in ihrem Land ging – ohne Angst vor Konsequenzen: „Diese Angst zu verlieren, darum ging es“, sagt Meinel: „Ein kleines bisschen mehr Demokratie, viel mehr wagten wir nicht zu hoffen zu dem Zeitpunkt.“

1986 war Reinhard Meinel nach Potsdam gekommen, 27 Jahre alt. Eine Universitätskarriere in seiner Heimatstadt Jena, wo er promoviert hatte, war ihm verwehrt geblieben. Denn er war Mitglied in der evangelischen Studentengemeinde, engagierte sich unter anderem für einen „sozialen Friedensdienst“ als Alternative zum Wehrdienst. Für eine Stelle an der Universität Jena verlangte man von dem jungen Wissenschaftler ein „klares Bekenntnis zu diesem Staat“ – am besten per Eintritt in die SED, erzählt er: „Das kam für mich nicht in Frage.“ Nach einer Zwischenstation in Dresden wechselte er schließlich ans Zentralinstitut für Astrophysik in Potsdam, eine Forschungseinrichtung der Akademie der Wissenschaften. Weil er dort keine Studenten unterrichten würde, waren die ideologischen Anforderungen nicht ganz so streng. Von den Räumen in der Stubenrauchstraße 26 war die Berliner Mauer zu sehen.

In vieler Hinsicht einer Meinung

Am Institut kam Meinel auch mit dem 15 Jahre älteren Fachkollegen Rudolf Tschäpe in Kontakt: „Wir haben schnell gemerkt, dass wir in vieler Hinsicht einer Meinung waren“, erzählt er. Die Ereignisse in der Sowjetunion, wo Gorbatschow unter den Schlagworten Glasnost und Perestroika einen Kurs der Öffnung in Gang gebracht hatte, verfolgten sie gespannt: „Wir hatten große Hoffnungen, dass sich auch bei uns etwas tut.“ Doch die SED-Führung zeigte sich hart.

Und langsam wuchs so etwas wie der Mut der Verzweiflung. „Ich hatte das Gefühl: Das kann so nicht weitergehen“, sagt Meinel: „Auch wenn ich an die Kinder dachte.“ Einen Sohn und eine Tochter hatten die Meinels damals. Die Kinder waren auch die größte Sorge: „Man wollte ja nicht die Familie zerstören.“ Wer es wagte, das Regime offen zu kritisieren, der musste mit Folgen rechnen. Das Ehepaar hatte all das besprochen: Meinels Frau hielt sich bewusst aus allen oppositionellen Aktivitäten heraus, damit sie im Ernstfall weiter für die Kinder würde da sein können.

"Es bedarf nur eines kleinen Anstoßes"

Im Umfeld der Umweltbibliothek an der Zionskirchengemeinde in Berlin trafen Meinel und Tschäpe Gleichgesinnte. 1988 suchten sie den Kontakt zu Bärbel Bohley, als diese nach ihrem sechsmonatigen Zwangsexil zurückkam in die DDR. An das erste Gespräch in deren Berliner Wohnung erinnert sich Meinel noch gut. Die Offenheit, mit der sie über die Verhältnisse sprachen, beeindruckte ihn ebenso wie die Art, mit der Bohley anderen Mut machen konnte. Während er und Tschäpe eher in Richtung einer sozialdemokratischen Bewegung dachten, habe Bohley für eine überparteiliche Bewegung geworben. Denn möglichst viele DDR-Bürger sollten sich angesprochen fühlen können: „Es bedarf nur eines kleinen Anstoßes.“

30 Mitstreiter aus der ganzen Republik versammelte Bohley am 9. und 10. September in Grünheide. Zwar war ein Stasi-Spitzel dabei, aber das Treffen blieb ungestört. Am Schluss der langen Diskussionen stand der Name: Neues Forum. Und ein zweiseitiges Papier – der Gründungsaufruf des Neuen Forum war auch programmatische Skizze für eine demokratisierte Gesellschaft ohne staatliche Bevormundung. Die Initiatoren machen darin auch klar, dass ihnen soziale und ökologische Belange wichtig sind, sie „ungehemmtes Wachstum“ und die „Entartung in eine Ellenbogengesellschaft“ ablehnen. „Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitgliedes des Neuen Forum zu werden“, heißt es abschließend: „Die Zeit ist reif!“ Zehn Tage später, das verabredete man, wollte man die Gründung in den verschiedenen Bezirken beantragen.

Keine Kopierer zur Verbreitung des Gründungsaufrufs

Bis dahin galt es, Unterschriften zu sammeln – und den Gründungsaufruf zu verbreiten. „Aber Kopierer gab’s nicht“, erzählt Meinel. In Potsdam half unter anderem Frieder Burkhardt von der evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindediakonie und Sozialarbeit, wo sich eines der wenigen Kopiergeräte befand. Auch mit Schreibmaschine und Kohlepapier wurde gearbeitet, erzählt Meinel. An der Babelsberger Friedrichsgemeinde richtete das Neue Forum ein provisorisches Büro ein.

In jener Zeit war die Angst wieder groß. „Es gab Gerüchte, dass eine Verhaftungswelle kommt“, erinnert sich Meinel. In einer Zeitungsmeldung kurz nach dem Treffen war das Neue Forum als „staatsfeindliche Vereinigung“ bezeichnet worden. Meinel und Tschäpe waren zum Rat des Bezirkes vorgeladen worden, wo man ihnen sinngemäß erklärte, für die Initiative bestehe „gar keine gesellschaftliche Notwendigkeit“, weil Bürger sich doch bei der „Nationalen Front“ einbringen könnten. Auch am Institut mussten sich die beiden in Einzelgesprächen für den Wechsel auf „die Seite der Konterrevolution“ rechtfertigen. Die Institutsleitung kündigte Konsequenzen an. „Das war ein ziemlich hartes Gespräch“, sagt Meinel. Aber er machte weiter: „Wir wollten Unterschriften sammeln und so demonstrieren, dass die gesellschaftliche Notwendigkeit besteht.“

Veranstaltung in drei Schichten

Das war spätestens am 4. Oktober klar: Zu einer Versammlung des Neuen Forum in der Babelsberger Friedrichskirche kamen so viele Menschen, dass die Veranstaltung in drei Schichten durchgeführt werden musste. Wie aus den Stasi-Akten hervorgeht, warteten an jenem Abend bewaffnete Einsatzkräfte im Karl-Liebknecht-Stadium auf einen möglichen Einsatz gegen die Bürger.

Bis Ende Oktober kamen in Potsdam 2084 Unterschriften für das Neue Forum zusammen. Man organisierte sich in Arbeitsgruppen, wählte einen Sprecherrat, eine Struktur entstand. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Zur ersten Demonstration des Neuen Forum in Potsdam gingen am 4. November Tausende Potsdamer auf die Straße, manche Quellen sprechen sogar von Zehntausenden. Anders als bei der Demonstration am 7. Oktober hielten sich die Sicherheitskräfte zurück, es blieb friedlich. Auf dem Balkon am Luisenplatz stand auch Reinhard Meinel und sprach zu den Massen. Sein Gesicht war in Potsdam stadtbekannt – eine Rolle, die er nicht aktiv gesucht hatte: „Es war ein bisschen eine unwirkliche Zeit“, sagt er heute. Das Neue Forum war auch treibende Kraft unter anderem bei der Besetzung der Stasi-Bezirkszentrale in der Hegelallee am 5. Dezember.

Nicht der Richtige für eine Politikerkarriere

In die Politik ist Meinel – anders als manch Mitstreiter – nicht gegangen. „Eine Zeit lang stand das zur Debatte, ich sollte für den Bundestag kandidieren“, erzählt er. Aber dann fragte die Uni Jena an, ob er nicht zurückkommen wollte – und unterrichten. „Die Entscheidung ist mir nicht schwer gefallen.“ Im März 1991 hat er seine Stelle angetreten. Seit 1999 ist er Professor für Theoretische Astrophysik in Jena, heute forscht er unter anderem zu Schwarzen Löchern. Für eine Politikerkarriere wäre er nicht der Richtige, ist er überzeugt: „Das sollen die machen, denen das auch Spaß macht.“ In der Politik sei es nötig, „schnell Antworten auf alle möglichen Fragen zu geben“. Er wolle aber in Ruhe abwägen, „so wie ich es als Naturwissenschaftler gewohnt bin“.

Dass der DDR-Wendeherbst vor der Landtagswahl von der rechtspopulistischen AfD für sich reklamiert wurde, die mit Sprüchen wie „Vollende die Wende“ warb, sieht Meinel relativ gelassen. Er bedaure es, dass die politischen Ränder so stark geworden sind, warne aber auch davor, „Leute auszuschließen aus der Debatte“: „Es sollen alle ihre Meinung sagen – und dann wird sich das Vernünftige durchsetzen“, ist Meinel überzeugt. Auch mit Blick auf die Entwicklung in osteuropäischen Ländern wie Polen oder Ungarn sieht er keinen Anlass zu „Weltuntergangsstimmung“: „Da ist die demokratische Tradition so stark, da mache ich mir keine Sorgen.“

Gute Verbindungen nach Potsdam pflegt Reinhard Meinel immer noch, auch wenn sein einstiger Mitstreiter Rudolf Tschäpe bereits 2002 verstorben ist. Zwei von Meinels Kindern leben heute in Potsdam, auch zwei Enkel hat er in Brandenburgs Landeshauptstadt. Die Erinnerung an die friedliche Revolution gebe ihm Kraft, sagt der 60-Jährige: „Daran muss ich immer denken, wenn man vor Schwierigkeiten steht: Dass etwas, was kaum veränderbar erscheint, eben doch verändert werden kann.“

Zur Startseite