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Die Ausstellung „30 Jahre/30 Paare – Gemischtes Doppel“ ist noch bis Sonntag, dem 4. Oktober vor dem Marstall zu sehen.

© Andreas Klaer

30 Jahre Deutsche Einheit: Gemischte Doppel

Das Ostfrau/Westmann-Paar war lange die privateste Folge der Wiedervereinigung. Welche Rolle die Herkunft heute noch in der Liebe spielt. Ein Essay der Potsdamer Autorin Christine Anlauff.

Durch unsere Internatsschule in Lehnitz bei Oranienburg fegt ein Gerücht. Anja, eine Klassenkameradin, soll sich auf einem Konzert in Berlin einen Wessi geangelt haben!

Stunden später ist es bestätigt und einige Tage darauf führt Anja ihren Fang stolz bei einer Internatsparty ein. Er entpuppt sich als leicht schütterer Blonder in Pullover mit V-Ausschnitt und robusten Halbschuhen namens Martin.

Martin ist auf unverbindliche Weise nett und bildet lange Sätze in einem seltsamen Dialekt, wobei er ein Selbstverständnis ausstrahlt, das ich als Überlegenheit empfinde. Unwillkürlich gehe ich auf Distanz. Was will Anja denn mit so einem?!

Zwanzig Jahre später schwärmt mir ein Journalist aus Bremen, der aber Mitte der 1990er-Jahre nach Berlin gezogen ist, von den Ostfrauen vor. Über ihren Pragmatismus, ihre Selbständigkeit und die unverklemmte Einstellung zu ihrem Körper. Er habe bereits die dritte Ostfrau und wolle nie wieder eine aus dem Westen!

Neugierig bis argwöhnisch beäugt

So geschmeichelt ich mich fühle, so verblüfft bin ich auch. In meinem Wohnkiez haben sich nach dem Sanierungsrausch der letzten Jahre etliche Westpärchen angesiedelt, die von den Ureinwohnern neugierig bis argwöhnisch beäugt werden. Und ja, auch ich finde an deren weiblichen Hälften einige Unterschiede zu meinen Ostfreundinnen. Zum Beispiel geben sie ihre Kinder nur in Ausnahmefällen vor dem dritten Geburtstag in die Kita, lassen sie ungern allein auf den Spielplatz oder zu Freunden gehen, melden sich auf Elternabenden häufig und ausführlich zu Wort, während die Ostfrauen gähnend zur Uhr schauen, legen ansonsten die gleiche selbstverständliche Präsenz an den Tag wie vormals Anjas Martin, und ich habe unter ihnen noch keine einzige Raucherin getroffen. Dass sie deshalb bei ihren männlichen Herkunftsgenossen hinter den Ostfrauen zurückfallen, ist mir jedoch neu.

Fortan schärfe ich meinen Blick für Paare, die mir nicht ganz „sortenrein“ scheinen. Bis 2017 besteht meine magere Ausbeute aus genau einem. Der Mann stammt aus der Gegend, die Frau aus Schleswig-Holstein. Also die umgekehrte Konstellation. Interessant. Noch ehe ich sie genauer unter die Lupe nehmen kann, trennt sich das Paar wieder. Hm. Der Ostfrau/Westmann-Verbindung begegne ich dagegen danach immer häufiger. Lässt sich die Schwärmerei des Bremer Journalisten also doch übertragen? Und wie steht es umgekehrt mit Ostmännern und Westfrauen, Westfrauen- Ostmännern et cetera?

Wieder-Vereinigung

Offenbar bin ich nicht die Einzige, die derartige Gedanken umtreiben. Im Frühjahr 2018 fragt mich eine befreundete Künstlerin aus heiterem Himmel, ob ich Lust auf eine Interview-begleitete Fotoausstellung von Ost/West-Paaren aus dem Umland hätte, sogenannte „Gemischte Doppel“. Zum 30. Jahrestag der Wieder-Vereinigung (Augenzwinker) und der Landesgründung.

Staunen und Zusagen sind eins, und die Recherchen gehen in die nächste Runde. Nun sogar mit einem Etikett und einer Leitfrage versehen: Welche Rolle spielt die unterschiedliche Herkunft mitsamt der dazugehörigen Prägung in den Beziehungen Ost/West-gemischter Paare 30 Jahre nach der Wende?

Denn das ist der springende Punkt.

Das Thema Ost/West-Paare an sich ist kein Neues und beschäftigt seit Mitte der 1990er-Jahre einen erklecklichen Strang von Soziologen, Journalisten und Autoren, die die Dynamiken hinter dieser privatesten Folge der Wende gespannt erforschen, protokollieren und analysieren. Es gibt Wissenschaftler wie den Aachener Soziologen Prof. Dr. Daniel Lois, selbst mit einer Chemnitzerin verheiratet, der das Phänomen zu seinem Spezialthema gemacht hat. Statistiken, denen zufolge über drei Viertel aller „Gemischten Doppel“ aus der Ostfrau/Westmann-Konstellation bestehen, von denen zwei in Westdeutschland leben, der Rest in den Neuen Bundesländern. Von berufsbedingter Binnenmigration ist die Rede, als Grundvoraussetzung für die Durchmischung. Von haarsträubenden Vorurteilen auf beiden Seiten, mit denen sich die „Gemischten“ lange Zeit konfrontiert sahen, wie: „Ossis haben keine Bildung, weil sie in der Schule nur indoktriniert wurden und keinen Familiensinn, weil die Mütter lieber arbeiten, als sich um ihre Kinder zu kümmern“, oder: „Wessis reden nur, anpacken können sie nicht“, bis hin zu dem bekannten Hohelied auf die autarke Ostfrau oder den kommunikativen Westmann.

Bundesweite Ausnahmeerscheinung

Erstaunlich ist dabei, dass gemischte Paare bis um 2010 herum insgesamt eher als – vielleicht deshalb so interessante – Ausnahmeerscheinung galten. Bundesweit.

Aber wie verhält es sich gegenwärtig und wie in Brandenburg und Potsdam?

Der Rücklauf auf die Bekanntmachung unseres Projekts deutet schon einmal darauf hin, dass sich im Hinblick auf die Zahl gemischter Paare in der Landeshauptstadt inzwischen etwas bewegt hat. Was vermutlich auch an der Berlin-Nähe und Potsdams stadtplanerischem und kulturellen Sonderstatus liegt, der seit 1990 mehr als 30.000 Neu-Potsdamer in die Stadt gezogen hat. Kaum ist der Aufruf jedenfalls über die sozialen und mündlichen Netzwerke gegangen, melden innerhalb kürzester Zeit über 50 Foto- und auskunftsbereite Paare. Die ausgewählten 30 erhalten zusätzlich zum Fototermin Fragebögen, auf denen sich Fragen finden wie: Gibt es Eigenschaften, die du an deinem Partner als speziell ost/westdeutsch empfindest? Und spannend: Bei der Auswertung erweist sich, dass beide Konstellationen, Ostfrau/Westmann und umgekehrt sich annähernd die Waage halten, (14:13), dazu kommen drei gleichgeschlechtliche Paare.

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Weiterhin spannend, wenngleich nicht unerwartet: Welche Rolle die Herkunft der Partner in der Beziehung spielt, hängt stark vom jeweiligen Alter der Paare ab. Befragte, die zur Wendezeit entweder Kleinkinder oder noch nicht geboren waren, gaben sie rundheraus mit Null an.

Muschelessen in Frankreich und Palatschinken in Ungarn

Doch auch im altersmäßigen Mittelfeld, der heute 40- bis 50-Jährigen, hat sie markant abgenommen. Zwar wurden bei langjährigen Paaren Erinnerungen wach, an früheres Staunen über Kindheitsreisen des Liebsten etwa, mit Muschelessen in Frankreich, während man selbst es maximal zu einem Palatschinken in Ungarn gebracht hatte. Oder über die Beherztheit der West-Partnerin beim Organisieren eines Telefonanschlusses für das gemeinsame Haus oder eines Tisches in einem vollen Lokal.

Beinahe jedes Paar verfügt über ein solches Archiv illustrer Geschichten. Teilweise auch düsterer, in denen die zukünftige Ostschwiegertochter stirnrunzelnd als „eine aus der Zone“ bezeichnet worden war, oder Eltern sogar vehement versucht hatten, die Ost-West-Verbindung zu sabotieren.

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Unterschiede, die sie eindeutig der Herkunft zuordneten, benannten die Partner dagegen nur noch wenige, dafür in der Tendenz wiederholt: Ostmänner täten sich schwer damit, Gegenstände zu entsorgen und reparierten lieber, statt neu zu kaufen. Sie seien außerdem kollegialer und weniger statusorientiert als Westmänner. Westmänner dafür die besseren Gesprächs- und Diskussionspartner. Ostfrauen zögen das Berufsleben dem Hausfrauendasein wie gehabt vor, zunehmend allerdings auch Westfrauen. Der Rest erschöpft sich in den bekannten Klischees über FKK versus Badekleidung und ominösen Gerichten, die die jeweiligen Partner in die Beziehung gebracht hatten, Stichwort: Jägerschnitzel und Tafelspitz.

Davon abgesehen freuen sich fast alle Befragten ausgedehnter ost/west-gemischter Freundeskreise und miteinander harmonierender Elternpaare und sehen hoffnungsvoll einer Zukunft entgegen, in der die gespaltene Vergangenheit immer mehr verblassen und aus ihren Rudimenten in den kommenden Generationen eine neue Persönlichkeitsqualität erwachsen wird. Vielleicht eine Art Wossi.

Die Ausstellung „30 Jahre/30 Paare – Gemischtes Doppel“ ist noch bis Sonntag, dem 4. Oktober vor dem Marstall zu sehen.

Die Potsdamer Schriftstellerin Christine Anlauff.
Die Potsdamer Schriftstellerin Christine Anlauff.

© PNN / Ottmar Winter

Christine Anlauff wurde 1971 in Potsdam geboren, ist gelernte Buchhändlerin und veröffentlichte ihren ersten Roman „Good morning, Lehnitz“ 2005 im Gustav Kiepenheuer Verlag. Sie lebt und schreibt in Potsdam – mit vier Kindern und einer Katze.

Christine Anlauff

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