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Leben mit Geschichte. Seit 1952 lebt Sigrid Lugowski in einem Estorff-Haus am Neuen Garten, das bis 1994 an die sogenannte „Verbotene Stadt“ des sowjetischen Geheimdienstes grenzte. Am 17. Juni fiel ein gefährlicher Verdacht auch auf sie und ihren Mann. Dass nichts Schlimmes passierte, war Glück.

© Sebastian Gabsch

17. Juni in Potsdam: Am Rande des Aufstands

Am 17. Juni 1953 stürmen Russen das Haus von Sigrid Lugowski – ein Schock. Heute kann sie darüber lachen.

Potsdam - Das Wetter. Hätte es nicht geregnet am Vormittag dieses 17. Junis und hätte die Nachbarin im Haus von Sigrid Lugowski nicht an dem Vormittag den Fußboden saubergemacht, wer weiß, dann wäre wohl alles anders gekommen und es hätten nicht mitten in der Nacht schwerbewaffnete Russen in ihrem Schlafzimmer gestanden. So aber ist der Fußboden nun blitzeblank. Die Nachbarin, die gewischt hat, ist Hausvertrauensmann, so heißt das, ein wichtiger Posten, man ist für die Verteilung der Lebensmittelmarken im Wohngebiet zuständig. An diesem Mittwoch ist wieder Ausgabetag. Damit die Leute nach dem Regen den Straßendreck nicht ins saubere Haus reintragen, läuft der Handel über ein Fenster im Erdgeschoss. Da stellen sich die Nachbarn an und bekommen ihre bunten Bögen mit den Marken ausgehändigt.

Sigrid Lugowski ist heute 91 Jahre alt und weiß das noch genau. Seit 1952 woht sie in dem Haus am Neuen Garten. Unmittelbar daneben beginnt damals das „Russenstädtchen“, im Park gegenüber dudelt den ganzen Tag ein Kinderkarussell Kalinka – „Ich konnte mitsingen“–, und genau vor ihrem Haus steht ein Wachturm. Der ist an diesem 17. Juni doppelt besetzt. „Die waren wohl nervös, aber was wussten wir denn schon, was los war“, sagt sie. Die Zeitungen schrieben, was sie schreiben sollten. Man las das oder auch nicht. „Danach haben die Kinder die Seiten zerschnitten für Klopapier“.

Ihr Mann Herbert arbeitet an der neuen Pädagogischen Hochschule. Er ist nicht in der Partei, denn „wir hatten ja unseren Glauben“, sagt Sigrid Lugowski. In den Westen zu den Schwiegereltern wollen sie dennoch nicht. „Die Stelle war Gold wert. Die Wohnung auch.“ Obwohl es eine einsame Ecke ist. Denn weil die Russen das Viertel gesperrt haben, ist der Weg in die Stadt abgeschnitten, man muss immer über den Pfingstberg. Der nächste Laden ist in der Hessestraße, man fährt Rad oder nimmt den Kinderwagen – über Trampelpfade. Manches gibt es auch direkt um die Ecke. „Es waren ja alles Höfe hier, da holten wir Milch und Eier“. Im Garten wächst Gemüse. Von dem akuten Unmut von Teilen der Arbeiterklasse der Republik, dieser Wut, die sich gerade freibricht, spürt man hier nicht viel.

„Aber was sollte man denn nun glauben?“

Dass am 17. und 18. Juni im Babelsberger Karl-Marx-Werk gestreikt wird, dass sich die Potsdamer Bus- und Bahnfahrer solidarisch zeigen und Polizei und Stasi im Bezirk Potsdam fast 600 Leute festnehmen werden, dass es Tote gibt während dieses ersten und letzten Aufstands der Bürger der DDR, die den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen fordern, und der mithilfe der russischen Armee niedergeprügelt wird – davon ahnt Sigrid Lugowski nichts an diesem Tag. Später dringen Gerüchte durch. Sie hören ja auch den Westsender Rias. „Aber was sollte man denn nun glauben?“

Auch was ihr Heizungsbauer eines Tages erzählt, ist kaum zu glauben. Nämlich dass sein junger Sohn verhaftet wurde, weil er kein Russisch lernen wollte. So was gibt es doch gar nicht, habe sie damals gedacht. Dass jener Hermann Schlüter zeitweise um die Ecke im Untersuchungsgefängnis der Sowjets saß – unvorstellbar. Seit der Wende war sie nun mehrmals dort, auch mit Besuchern. „Ich finde, das muss gezeigt werden.“ Die Stimmung in den ersten Jahren der DDR erinnert sie so: „Man musste sich schon genau überlegen, mit wem man worüber spricht. Und was Ulbricht sagte, das war das Evangelium“.

Was ihr am 17. Juni 1953 passierte, hat sie sich genau eingeprägt, weil an diesem Tag ihr Mann Geburtstag hatte. „Wir hatten Besuch, Kollegen aus der Hochschule und auch die Schwiegereltern aus dem Westen waren da.“ Die bleiben über Nacht, schlafen bei ihrer Schwiegertochter im Schlafzimmer, Herbert Lugowski zieht auf die Couch. Die Fenster lassen sie offen, die historischen Fensterläden des Estorff-Hauses nur angelehnt. Deshalb haben die Russen, die nachts einsteigen, leichtes Spiel. Plötzlich stehen vier Mann mit MPs im Schlafzimmer und brüllen: „Raus!“ Heute kann Sigrid Lugowski darüber lachen.

Sie wurden verdächtigt, Flugblätter gedruckt zu haben

Damals verstehen sie kein Wort, sie können kein Russisch, die Russen kein Deutsch. Bald sind es zwölf Mann, die das ganze Haus auf den Kopf stellen und sogar die Asche im Ofen durchsieben. „Es war schlimm.“ Die Schwiegereltern sind schockiert. Aber ihr Mann behält die Nerven und schlägt vor, dass man einen Dolmetscher holt. Der kommt früh um fünf, eine hübsche Frau, erinnert sich Lugowski. Sie steigt auch durchs Fenster ein, „obwohl alle Türen aufstehen, verrückt.“ Nun klärt sich immerhin alles auf. „Die dachten also, wir haben Flugblätter gedruckt und verteilt und suchten Material und Druckmaschinen! Wir waren vom Donner gerührt.“

Der Grund für die Verdächtigung: Der zusätzliche Wachposten vor dem Haus hatte beobachtet, wie Leute mit großen Taschen zum Haus kamen und sich irgendwelche Papiere abholten. „Das waren die Lebensmittelmarken. Der hat das aber sofort gemeldet.“ Sie können glücklicherweise mit ihren Unterlagen beweisen, dass sich alles rechtens verhält und die Russen ziehen ab. Entschuldigt haben sie sich nie. „Ach wo!“, sagt Sigrid Lugowski. „Das war nicht üblich.“ Die Schwiegereltern verabschieden sich tags darauf mit dem Satz: „Ihr könnt doch nicht hierbleiben, das ist ja grauenvoll.“

Aber sie bleiben, auch nach dem Schreck. Mitte der 50er Jahre wird das Leben etwas einfacher. Neben der Villa Mendelssohn wird ein Konsum eingerichtet und der Neue Garten für den Durchgang zur Schwanenallee geöffnet. Damit ist freilich 1961 wieder Schluss. Auch ihr Paddelboot müssen sie dann gezwungenermaßen verkaufen. Von ihren Töchtern geht eine in den Westen, die andere bleibt. Sigrid Lugowski arbeitet heute als Empfangsdame im Nikolaisaal. Die komplizierte Vergangenheit ist weit weg. Nur wenn sie den Kater ruft, den sie vor Jahren von einer russischen Studentin aus der Nachbarschaft erbte, weil diese den nicht mit nach Hause nehmen durfte, dann klingt es noch Russisch durch den Garten: „Gagarin!“

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