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Werder (Havel): Im Takt einer anderen Zeit

In der Muckerstube erzählt Heidi Garbe vom Leben in Werder vor 100 Jahren. Sie sucht einen Nachfolger.

Von Enrico Bellin

Werder (Havel) - Weiß und gülden reiht sich die Armada an Kaffeetassen im Regal, frisch gestärkte Spitzenwäsche begrüßt den Gast über dem Eingang, die altehrwürdige Pendeluhr an der Wand schlägt im Takt einer anderen Zeit: Heidemarie Garbe, genannt Heidi, hat in ihrer „Muckerstube – Domizil Anno 1910“ das Werdersche Leben von vor 100 Jahren wieder aufleben lassen. Seit zehn Jahren betreibt sie das kleine Heimatmuseum mit Café in der Brandenburger Straße/Ecke Unter den Linden. Erstmals ist es in dieser Saison nur noch auf Bestellung geöffnet.

Mit 66 Jahren werde der regelmäßige Betrieb „manchmal schon beschwerlicher“, sagt die Muckersche – Obstmucker nannten sich die Werderaner Bauern früher selbst. Für Gruppen ab sechs Personen öffnet Garbe und macht altdeutsche Küche nach Wunsch und Rezepten ihrer Familie, etwa Kartoffelkuchen mit eingelegtem Hering. „Man muss nur den Mut haben, mit mir zu sprechen oder mir eine Leitungspost zu schicken“, sagt die resolute, studierte Gartenbauerin und meint damit eine E-Mail. Auch zum zweiten Frühstück ab 10 Uhr öffne sie gern.

Besonders angesichts des am 29. April startenden Baumblütenfestes lohnt es sich, vor dem Genuss des Obstweines deftige Hausmannskost und Geschichten in der Muckerstube zu genießen. Von ihrem Opa Wilhelm Gent, der gern als „Herr Fruchtsaftpressereibesitzer“ betitelt wurde, hat Garbe viele Anekdoten und Begebenheiten überliefert bekommen, manches auch selbst miterlebt. Neben Fruchtsaft hat der Opa etwa auch Obstwein hergestellt, Garbes Mutter hat ihn Mitte der 30er-Jahre in der damals neu eingeführten Tracht in den Farben der Stadt, Grün, Weiß und Rot, verkauft. „Dabei stand Muttern in einem großen Holzfass gegenüber der Bismarckhöhe, das ihr Vater immer verschloss“, erzählt Garbe. Um ganz sicherzugehen, dass keiner der männlichen Festbesucher seiner Tochter zu nahe kommt, sei Wilhelm Gent dann auch noch um den Stand herum patrouilliert.

Manchmal habe er sich auch einfach einen Spaß daraus gemacht, die angeheiterten jungen Herren zu ärgern – etwa wenn sie auf dem Fensterbrett liegende Kissen stehlen wollten, auf die sich die Werderaner gern stützten, um das Festgeschehen zu beobachten. Auch Wilhelm Gent ist das in seinem Haus im Hohen Weg, einer der Hauptmeilen des Baumblütenfestes, passiert. Deshalb bat er seine Frau, Ösen an die Kissen zu nähen, durch die er Schrauben ins Fensterbrett drehen konnte. „Dann stand Opa zwischen den Fenstern und freute sich diebisch, wenn die Betrunkenen an den Kissen herumwirtschafteten und sie trotzdem nicht abbekamen“, so Heidi Garbe.

Selbst habe sie als Kind einmal Angst vor ihrem Opa bekommen, als sie mitbekam, wie er lauthals Kunden vom Hof jagte, die faule Äpfel zu Saft gepresst haben wollten. „Später habe ich dann aber eingesehen, dass er damit im Grunde völlig recht hatte“, sagt Garbe. Schließlich schmecke dann auch der Saft verfault.

Nach ihrem Studium an der Berliner Humboldt-Universität hat Heidi Garbe selbst in einer Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft in Werder gearbeitet. Meist war sie in der kaufmännischen Abteilung tätig, mit 28 Jahren übernahm sie dann für mehrere Jahre die Leitung des Obstsortierbereiches und war auch für die Ernte von Champignons zuständig. Die wurden im gleichen Keller nahe des Werderaner Plantagenplatzes gezüchtet, in dem schon Garbes Großvater Obstsaftpresser gelernt hat. Er hatte sich 1907 – genau 100 Jahre vor seiner Enkelin – selbstständig gemacht.

2007 wollte Garbe, die nach dem Ende der Genossenschaften noch bei Werder Frucht arbeitete, ihr Wissen weitergeben. Ihre Mutter hatte aus den Haushaltsauflösungen der Großeltern und einer Großtante viele Gegenstände gesammelt, die den Grundstock der Muckerstube bildeten. „Da die Großeltern und die Großtante 1910 geheiratet haben, habe ich die Muckerstube auch Domizil anno 1910 genannt“, so Garbe. Ergänzt wurde das Interieur durch Spenden der Werderaner.

Um die Muckerstube langfristig zu erhalten, sucht Heidi Garbe nun jemanden, der das kleine Heimatstübchen übernimmt. Aus der Familie heraus geht das nicht, Garbes Tochter lebt in Kanada. Ihre Enkelin wird demnächst ein Jahr alt. Um sie aufwachsen zu sehen, will Garbe nun auch öfter verreisen. Zudem ist sie Mitglied der Stadtführergilde, was ebenfalls Zeit koste. „Wer mein Nachfolger werden will, braucht auf jeden Fall einen Tick fürs Alte, muss Menschen mögen und viel lächeln können“, so Heidi Garbe. Das Wissen könne sie vermitteln. „Und so lange meine Zähne und die Gusche noch mitmachen, werde ich auch die erzählende, in der Ecke sitzende Oma sein“, ergänzt die Muckersche noch schnell.

Tel.: (03327) 42961, Mail: muckersche@gmx. de

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