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Von Sandra Dassler und Tobias Reichelt: Unberechenbare Nachbarschaft

Eine Bekannte beschreibt den Täter Carsten W. als kinderlieb. Die Kleinmachnower sind schon wegen anderer Vorfälle alarmiert

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Kleinmachnow - Die Spurensuche am Tag danach führt auf beide Seiten der Berliner Stadtgrenze, nach Kleinmachnow und nach Zehlendorf. Der Tierfutterladen in der Ladenstraße in Zehlendorf ist geschlossen, und das schon seit dem Herbst. Inhaber Carsten W. habe sich auf den Lieferdienst konzentrieren wollen, sagt der Verkäufer aus der benachbarten Confiserie. Auch die Confiserie gehört W.; der Verkäufer ist also ein Angestellter des mutmaßlichen Kindesentführers. Freundlich sei der Chef, von Geldsorgen wisse er nichts, sagt der Verkäufer.

Andere Händler in der Ladenstraße wollen W. nicht näher gekannt haben. Eine andere Verkäuferin sagt, W. sei sehr liebevoll mit Kindern umgegangen – mit seinen eigenen und mit anderen auf den jährlichen Frühlings- und Herbstfesten in der Ladenstraße. Im Bistro ist nur zu erfahren, dass W. gelegentlich auf eine Currywurst vorbeikam. Eine Anwohnerin allerdings sagt: „Als ich von der Entführung hörte, musste ich an W. denken. Er hat so unglücklich gewirkt, als er im vergangenen Jahr sein Geschäft aufgegeben hat.“ Unter der Telefonnummer des Ladens meldet sich am Freitagnachmittag eine automatische Ansage: „Diese Mailbox kann zurzeit leider keine weiteren Nachrichten annehmen.“

Fünf Kilometer weiter südlich, in der Kleinmachnower Hufeisen-Siedlung, berichten Eltern von ihren Gefühlen nach der Entführung des vierjährigen Mädchens. „Das hätte jedem passieren können“, sagt Sabine Schroeder. Sie hat an diesem Morgen ihre Kinder mit dem Auto zur Kita gefahren. „Als wir aus dem Haus traten, habe ich mich zuerst umgeschaut“, erzählt die junge Mutter. Sonst gehe ihre Tochter vor, öffne das Gartentor. Aber nicht heute. Im vergangenen Jahr sei die große Tochter beim Skaten auf dem Netto-Parkplatz – nur wenige hundert Meter vom Ort der Entführung entfernt – von einem Unbekannten aus einem weißen Auto heraus fotografiert worden. Die Sache sei nie aufgeklärt worden.

Am Donnerstag war in vielen Kindergärten im Ort das Spielen im Garten verboten, alle mussten drin bleiben, die Türen wurden verriegelt. Die Nachricht von der Entführung hatte sich schnell verbreitet. Kein Kind durfte allein aus Kitas oder Schulen nach Hause gehen. Gestern berichten mehrere Eltern schaurige Geschichten von Männern, die Kinder mit Katzenbabys locken, sie sexuell belästigten. Die Fälle hatten teils für Schlagzeilen gesorgt.

Zuletzt hatte ein Nackter im Sommer 2010 zwei Mädchen mit seinem Auto verfolgt. Bereits im November 2009 hatte es eine versuchte Entführung einer 13-Jährigen gegeben. Sechs solcher Versuche sollen der Polizei in jenem Jahr insgesamt angezeigt worden sein, das Innennministerium korrigierte die Zahl später auf zwei.

„Wir fühlen uns hier alle bedroht“, sagt Familienvater Matthias Schuster. Länger als sonst hat Schuster seinen beiden Kindern an diesem Freitagmorgen am Tor der Steinweg-Grundschule hinterhergeblickt. Erst als die schwere Schultür hinter ihnen hörbar ins Schloss rastet, dreht sich der Familienvater um und macht sich auf den Weg zur Arbeit. „Hier rennen genug Perverse rum“, sagt Schuster. Alleine würde er seine Kinder nicht mehr zur Schule lassen. Eigentlich sei seine Familie nach Kleinmachnow gezogen, weil es hier ruhig und grün sei, weil hier viele Kinder lebten. „Aber das zieht offenbar auch Verbrecher an.“

Der Schock über die Entführung sitzt tief, sagt Anika Hackert. „Ich hatte am Abend noch Angst, allein nach Hause zu gehen“, erzählt die 21-Jährige. Die Verkäuferin arbeitet beim Bäcker im Hufeisenviertel. Den ganzen Donnerstag waren hier Polizisten unterwegs. „Jeder zweite Kunde hat mich darauf angesprochen.“ Stück für Stück hat die junge Frau mit der roten Strähne im Haar die Details der schrecklichen Entführung erfahren. Ihr Kommentar klingt drastisch: „Schwanz ab.“ An der Bushaltestelle gegenüber steht Evelyn Malze. „Ich bin ganz schön fertig“, sagt sie. „Das hier so was passiert, hätte nie einer gedacht.“ Malze kann die Kleinmachnower Eltern verstehen, die ihre Kinder nun nicht mehr allein zur Schule gehen lassen wollen.

„Es ist ein Gefühl der Bedrohung entstanden“, sagt Joachim Schossau. Der Familienvater sitzt im Elternrat der Steinweg-Schule. Einmal im Quartal, schätzt er, werde ein neuer Vorfall bekannt. „Kleinmachnow scheint in diesem Sinne ein hochgefährliches Pflaster zu sein. Man kann seine Kinder nicht mehr unbeaufsichtigt durch die Straßen laufen lassen.“ Die Kinder würden selbst auf kurzen Strecken stets begleitet. „Wir haben überlegt, ob wir hier wegziehen.“

Auch Alexandra und Emily kennen die Geschichten von den Männern, die im Ort immer wieder gesichtet wurden. Ein Glatzkopf mit einem langen Mantel habe eine Freundin aus der Parallelklasse verfolgt, erzählen die Sechstklässlerinnen aus der Steinweg-Grundschule. „Auch ein anderes Mädchen aus der ersten Klasse wurde schon von einem Mann angesprochen“, sagt Emily. „Sie ist ganz schnell weggelaufen und hat Hilfe gesucht.“ In der Schule werde viel über solche Dinge gesprochen.

Wolfgang Kremer, Sprecher der Kleinmachnower Elterninitiative „Kinder ohne Lehrer“ sieht nach den Ereignissen im Hufeisenviertel die Politik am Zug. „Ich habe am Donnerstag mit gestandenen Männern gesprochen, Männern im Geschäftsleben, die wirklich Angst hatten“, erzählt der Kleinmachnower Vater. Er findet die Debatte um die Schließung der Polizeiwache im nahen Teltow höchst bedenklich. Der direkte Kontakt zur Polizei gehe verloren, „und es dauert eben länger, um mit dem Streifenwagen von Potsdam bis hierher zu kommen“.

Kleinmachnows Bürgermeister Michael Grubert (SPD) wirbt indes um Zurückhaltung. „Im vergangenen Dreivierteljahr hat es in Kleinmachnow keine neuen Fälle von sexueller Belästigung gegeben“, sagt er. Nach einer Häufung von Anzeigen sei ein Täter gefasst worden und die Lage wieder ruhig. Die Polizeiwache in Teltow, das findet auch Grubert, müsse bleiben: Nicht nur wegen des aktuellen Falles, sondern weil der Berliner Speckgürtel generell im Visier von Kriminellen ist.

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