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Theater in Werder: Beklemmend aktuell

Das Werderaner Comédie Soleil zeigt Orwells Klassiker „1984“. Es ist minimalistisch erdrückend.

Werder (Havel) - Könnte es sein, dass George Orwells Roman „1984“ als Gebrauchsanleitung benutzt wurde? Es könnte sein, angesichts der Vision eines Überwachungsstaates, den Orwell so detailreich entwarf, dass es den Leser angesichts der Wirklichkeit noch 70 Jahre nach Erscheinen des Buches schaudern lässt. Für ein beklemmendes Gefühl sorgt auch das Stück in der Bühnenfassung von Alan Lyddiard, das derzeit im Werderaner Comédie Soleil zu sehen ist.

Unter der Regie von Julian Tyrasa wurde die Inszenierung mit minimalen Mitteln auf die Bühne gebracht. Kahle Wände zäunen die Bühne regelrecht ein, es gibt wenig Mobiliar. Dahinter blitzt von Zeit zu Zeit ein überdimensionaler Bildschirm auf – das wachsame Auge von Big Brother kontrolliert die Akteure. Das Stück ist harte Kost, wohl auch weil Orwells Schreckensvisionen heute so real erscheinen. Da staken die Protagonisten in sich gekehrt aneinander vorbei, erstarren regelrecht, wenn sie zur Raison gerufen werden, und ihr Jubel wirkt mechanisch. Es gibt verordnete „Hassminuten“ auf Abweichler, die eine absolut herrschende Partei allen abverlangt. Das ist die Welt von Winston Smith, der heimlich Tagebuch führt. Da schreibt er hinein, dass er auf eine Zukunft hoffe, in der „die Menschen unverwechselbar sind“.

Big Brother is watching you

Winstons Job sind Korrekturen von alten Zeitungsartikeln und anderen Publikationen, deren Inhalte parteikonform angepasst werden sollen. Es gilt nur noch: „Was die Partei für die Wahrheit hält, ist die Wahrheit.“ Der scheue Winston, gespielt von Frank Dukowski, lehnt das System innerlich ab, seine Korrekturen erscheinen Big Brother zu lasch. Auch Winstons Sprache ist noch nicht genügend auf dem Stand des sogenannten Neusprechs, welches das Altsprech bereinigen will und Wörter eliminiert, die der Partei schaden könnten. Als er sich in Julia verliebt, erlebt er erstmals so etwas wie Leichtigkeit und Glück. Da werden graue Fassaden im Hintergrund plötzlich farbig, eine Backsteinfassade errötet gar, denn Liebe und Zärtlichkeiten sind verboten in dem Land, wo nur Angst herrscht.

Was im ersten Teil des Stückes noch teilweise skurril anmuten mag, wird im zweiten Teil nach der Pause derart beklemmend, dass man insgeheim hofft, Winston möge durch glückliche Fügung den Qualen entkommen, die ihm in der Folterkammer des O’Brien angetan werden. In diesem Raum der Angst sitzt Winston festgebunden, welch schöne Ironie, auf einem Zahnarztstuhl, was manchen Zuschauer die Folter durchaus nachempfinden lässt. Zwei und zwei ist nicht vier, sondern fünf, und „falsche“ Antworten werden mit Stromstößen quittiert. Foltermeister O’Brien, ein teuflisch liebenswürdiger Verführer, gespielt von Edward Scheuzger, hat aber noch mehr Höllenpein im Repertoire. So ist Winston am Schluss ein gebrochener Mann, der auch seine Liebe verraten hat.

Erschreckend aktuelle Bezüge

Auch zu aktuellen Ereignissen gibt es verblüffende Parallelen, wie Trumps Fake News und die Datensammelwut in den sozialen Netzwerken. Was ein totalitärer Staat mit Daten anfangen kann, ist in China zu beobachten, wo mit dem Social- Credit-Rating ab 1. Mai die chinesische Gesellschaft verändert werden soll. Mit dem Punktesystem sollen „nicht vertrauenswürdige Bürger“ mit Repressalien belegt werden, etwa einem Reiseverbot oder der Ablehnung von Darlehen.

Was ein Staat mit Daten anfangen kann, zeigt aber auch Bayern mit seinem neuen Polizeiaufgabengesetz, das nicht nur Zugriffe auf Computer, Smartphone und Cloud erlaubt. Die Kontrollkompetenz schließt auch ein, dass schon die Wahrscheinlichkeit einer Straftat genügt, um in Vorbeugehaft zu kommen. Orwell wollte vor der Zukunft „gläserner Menschen“ warnen, doch längst hat die Realität ihn bestätigt. So war der zwar langanhaltende Applaus am Ende des Stückes auffällig zurückhaltend. Kirsten Graulich

Vorstellungen bis 22. April samstags 19.30 Uhr, sonntags 17 Uhr, 30.3. um 19.30 Uhr, Karten kosten 8 bis 18 Euro

Kirsten Graulich

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