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Poster mit historischen Fotos auf dem ehemaligen Bahnsteig der Stammbahn am S-Bahnhof in Berlin-Zehlendorf.

© Thilo Rückeis

Streit um die Stammbahn: Ist Mobilität wichtiger als Naturschutz?

Auf dem Podium pro, im Saal viel contra: Die offizielle Diskussionsveranstaltung zur Reaktivierung der Stammbahn wurde vertagt. In drei Wochen soll es einen neuen Termin geben.

Kleinmachnow/Berlin - Die Diskussion um die Stammbahn ist verschoben: Ursprünglich hatte das Regionalmanagement Südwest für den 2. September zur Informationsveranstaltung "Potsdamer Stammbahn: Zurück in die Zukunft" geladen. Auf dem Podium sollten prominente Befürworter der Idee, die alte Eisenbahnlinie zwischen Zehlendorf und Griebnitzsee wieder in Betrieb zu nehmen, Platz nehmen: Geladen waren Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU), ihr Amtskollege Michael Grubert (SPD) aus Kleinmachnow, der Eisenbann-Historiker Peter Bley, der DB-Konzern-Bevollmächtigter für Berlin Alexander Kaczmarek und Christfried Tschepe vom Fahrgastverband IGEB. 

Doch die Diskussion findet nicht statt – um die Corona-Abstandsregeln einzuhalten, reichte der geplante Raum nicht aus. Jetzt wird neu gefahndet, nach einem Ort und einem Datum, die Veranstaltung "wird um drei Wochen verschoben", teilte Bärbel Petersen von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Regionalmanagements auf Anfrage mit.

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Die Debatte ist wichtig, die Wiederinbetreibnahme der Stammbahn höchst umstritten. Während auf dem Podium die Stammbahn-Befürworter gesessen hätten, hätten sich wohl im Publikum auch viele Gegner versammelt. Erst im Juli hatte der Förderverein LSG Buschgraben / Bäketal zusammen mit dem BUND Berlin Südwest eine neue Umweltstudie präsentiert, in der die Folgen der Stammbahn-Reaktivierung beschrieben werden. Autor Jochen Halfmann, er arbeitete unter anderem für das Brandenburger Umweltministerium und die Berliner Senatsverwaltung für Stadtenwicklung, kommt zu dem Schluss: Sollten auf der aktuell überwachsenen Stammbahntrasse wieder Züge rollen, werde "ein aus naturschutzfachlicher Sicht wertvoller Habitatkomplex zerschnitten und in Teilen unwiederbringlich zerstört". 

Sorge vor "Biotopzerschneidung"

Die zusammenhängenen Waldgebiete des Düppeler Forsts (Berlin) und der Parforceheide (Brandenburg) hätten eine große Bedeutung, sollte die Bahntrasse durch diesen Verbund führen, könne "eine Biotopzerschneidung in dieser Größenordnung" nicht ausgeglichen werden. Der Umweltexperte hatte in mehreren Vor-Ort-Begehungen die vorhandenen Biotope auf der überwachsenen Trasse, offiziell ist sie immer noch als Bahnlinie gewidmet, kartiert. Jochen Halfmann fand Sandtrockenrasen, Silbergrasfluren, Eichenmischwälder, Pionier- und Vorwälder, Kiefernforsten und mehrschichtige Gehölzbestände. 

Nicht alle dieser Biotope sind gesetzlich geschützt – zwischen dem S-Bahnhof Zehlendorf und der Autobahn A 115 scheinen kaum geschützte Biotope zu bestehen. Ab Dreilinden wird es aber haarig: Das Biotop WNK 2 bei Dreilinden (Kiefernforst mit Eichen als Mischbaumart und mehreren Laubbaumarten in etwa gleichen Anteilen) könnte nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU (FFH-Richtlinie) eine "Entwicklungsfläche" sein. Etwas weiter fand der Fachmann "einen vermutlich mehr als 100-jährigen Eichenbestand" (WQ 5), hier könnte ein FFH-Schutz greifen. Allerdings schränkte er zuvor ein: "Grundsätzlich ist der Schutzstatus dieser Wälder [Eichenmischwälder und Eichen-Hainbuchenwälder] wiederum nur innerhalb von FFH-Gebieten verbindlich (im Bereich der Stammbahntrasse nicht gegeben)." 

Die alte Trasse der Stammbahn in Berlin-Zehlendorf  am ehemaligen S-Bahnhof Düppel.
Die alte Trasse der Stammbahn in Berlin-Zehlendorf  am ehemaligen S-Bahnhof Düppel.

© Thilo Rückeis

Definitiv unter Schutz steht ein wertvolles Biotop im Norden der Parforceheide bei Kohlhasenbrück. Dort hat Jochen Halfmann Sandtrockenrasen, "vorwiegend als Silbergrasfluren ausgeprägt", und einen Kiefern-Vorwald festgestellt. "Insgesamt ist der Habitatkomplex aus naturschutzfachlicher Sicht als sehr wertvoll einzustufen", urteilt der Naturwissenschaftler, im Brandenburger Biotopkataster sei der Bereich bereits als geschütztes Biotop erfasst.Obwohl der Gutachter keine Tier- und Planzenzählung vorgenommen hat, fand er auf seinen Exkursionen auf der Bahntrasse sowohl den gefährdeten Goldhahnenfuß als auch die in Berlin vom Aussterben bedrohte Hornflechte sowie Exemplare der geschützten Sand-Strohblume. Jochen Halfmann überschreibt sein Gutachten mit "Ersteinschätzung der Biotopausstattung", er empfiehlt an mehreren Textstellen vertiefende Untersuchungen.

Für seine Auftraggeber ist durch das Gutachten klar: "Angesichts dieser Erkenntnisse und aufgrund der vorhandenen Alternativen zur Verbesserung des ÖPNV in der Region lehnen wir den Neubau der Bahntrasse durch die betroffenen Landschaftsschutzgebiete strikt ab", erklärt Ursula Theiler, die Vorsitzende des Fördervereins LSG Buschgraben / Bäketal. Das Aktionsbündnis "Ressourcen nutzen – Natur schützen!", zu dem ihr Verein gehört, fordert statt der Stammbahntrasse die Wannseebahn parallel zur S1 für den Regionalverkehr zu nutzen. "Wir brauchen eine schnelle, wirksame, kostengünstige Verbesserung im Bahn-Regionalverkehr zwischen Potsdam-Mittelmark und Berlin", findet Reinhard Crome vom Aktionsbündnis: "Regionalbahnen auf den Gleisanlagen der Wannseebahn können dies in kürzester Zeit und mit minimalen Investitionen leisten."

Strecke hat überregionale Bedeutung für Abwicklung von Pendlerströmen

Für das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf bezog Nahverkehrsstadtrat Michael Karnetzki (SPD) Anfang August die Gegenposition: Die Wiedererrichtung der Stammbahn habe eine übergeordnete Bedeutung "im Hinblick auf die nachhaltige Abwicklung der Pendlerströme zwischen Berlin und den westlichen Regionen Brandenburgs, für die verkehrliche Entlastung der Stadtbahntrasse und als eine Ausweichstrecke bei temporären Streckensperrungen". Für Steglitz-Zehlendorf wäre die Stammbahn eine Entlastung in Bezug auf die Pendlerverkehre aus Kleinmachnow und Potsdam – irgendwann sei genug geprüft worden, irgendwann müsse man auch mal entscheiden. 

Zusammen mit dem Fahrgastverband, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Brandenburg (die BUND-Leute im Südwesten haben interessanterweise eine ganz andere Position), der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG und der Bürgerinitiative Stammbahn habe das Bezirksamt sowohl die Brandenburger Verkehrsminister als auch die Berliner Verkehrssenatorin aufgefordert, schnell pro Stammbahn zu entscheiden. Für heiße Debatten und Spannung ist also gesorgt – sobald der neue Termin für die Diskussionsveranstaltung fest steht. 

Anderer Termin, gleiche Baustelle: Wann die Stammbahn denn im Falle eines Falles wieder in Betrieb gehen könnte, fragte der SPD-Abgeordnete Tino Schopf beim Senat nach. Das hänge davon ab, ob die Variante S-Bahn oder Fernbahn verwirklicht werden würde, antwortete Verkehrsstaatssekretär Ingmar Streese (Grüne). S-Bahnzüge könnte auf den Gleisen "Mitte oder Ende der 2030er Jahre" rollen. "Bei einer Umsetzung der Fernbahnvariante kann laut Zeitplan mit einem Realisierungsbeginn Mitte 2032 und einer Fertigstellung Ende der 2030er Jahre gerechnet werden", schrieb der Staatssekretär in der frisch veröffentlichten Antwort. Immerhin: Bis Ende 2022 soll die Grundlagenermittlung abgeschlossen sein, dann schließe sich bis 2024 die Vorplanung an. 

Der Text ist im Tagesspiegel LEUTE-Newsletter für den Bezirk Steglitz-Zehlendorf erschienen. 

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