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Postkarten aus Werder: Fake News anno 1910

Gut 2000 Postkarten seiner Heimatstadt hat der Werderaner Erhard Schulz gesammelt, einige erscheinen im April in einer neuen Chronik. Doch nicht immer zeigen sie die Wahrheit.

Von Enrico Bellin

Werder (Havel) - Es ist ein idyllisches Szenario am Werderaner Bahnhofsvorplatz, das die 1924 versendete Postkarte zeigt: Zwei Mädchen gehen hübsch herausgeputzt mit dem Hund über den Platz, der von Jugendstilhäusern umsäumt ist. Ein paar Erwachsene, ebenfalls im Sonntagsstaat, laufen zu zweit oder dritt nebeneinander vom Bahnhof in die Innenstadt. Direkt daneben im Sammelalbum von Erhard Schulz: Die gleichen Kinder in gleicher Position, auch der Hund zieht noch immer an der Leine und die Fußgänger gehen spazieren. Doch in der um 1910 erschienen kolorierten Karte, die offensichtlich das gleiche Foto zum Vorbild hat, ist der Platz von Menschen gefüllt, die zwischen den Protagonisten stehen, als seien sie immer da gewesen, und teilweise mit ihnen interagieren. Der Künstler hat sie gekonnt hineinretuschiert. Fake News von vor hundert Jahren.

„Es ist schon erstaunlich, mit welcher Präzision solche Manipulationen schon damals möglich waren“, sagt Erhard Schulz, der mehr als 2000 Postkarten mit Motiven aus Werder besitzt. Da sei wohl jemandem der Platz zu leer gewesen, um für Werder als Ausflugsort zu werben. Besonders bei solchen nachkolorierten Postkarten haben Künstler ihrer Fantasie oft freien Lauf gelassen: Auf den gleichen Motiven am Aufgang zur Bismarckhöhe, deren Vorbildfoto einen eher kahlen Baum zeigt, steht der gleiche Baum mal in voller Blütenpracht, mal leuchten stattdessen grüne Blätter. Auch die Bismarckhöhe selbst verändert sich: Mal sind es fünf große Fensterbögen, die zur Terrasse hin zeigen, mal sechs. Die fünf Bögen, die es in der Realität gab, waren wohl nicht jedem festlich genug. „Umgebaut wurde die Gaststätte zwischen den einzelnen Aufnahmen sicher nicht“, scherzt Schulz.

Gastronomische Geschichte 

Höhengaststätten und Restaurants von Werder sind das Postkartensammelmotiv des 67-jährigen gebürtigen Werderaners. Schulz sammelt die Karten seit seiner Schulzeit. Schon die bereits erschienenen Bände der Werderaner Ortschronik oder die Beiträge des Heimatvereins, in dem Schulz Mitglied ist, haben sie bebildert. Für den sechsten Band der Ortschronik, der im April erscheinen soll und sich mit Dienstleistungen und der Industrie befasst, haben er und Ursula Plank die gastronomische Geschichte der Blütenstadt aufgearbeitet.

Dabei haben die Postkarten geholfen: So hat etwa der Verband der Gastronomie und Schankwirte der Stadt im Jahr 1904 eine Serie Ansichtskarten herausgebracht, auf denen Stadtpläne mit allen Restaurants und Kneipen eingezeichnet sind. Auf jeder Karte ist auch eines der Restaurants abgebildet. Allein diese Serie füllt Doppelseiten in der Sammlung, das weitgereisteste Exemplar der Werderaner Ansicht stammt aus Buenos Aires. Insgesamt 43 Gaststätten konnte Erhard Schulz ausmachen. Einige waren für den Hobbyhistoriker völlig neu. „Bevor ich die Postkarte gesehen habe, wusste ich nicht, dass es etwa auch an der Strengbrücke eine Gaststätte gab“, so der Philokartist, wie Postkartensammler im Fachjargon heißen. Inzwischen hat er auch Motive des Restaurants auf Sammlerbörsen gefunden. Das Haus steht heute noch links vor der Brücke in Richtung Potsdam, ist aber komplett als Wohnhaus umgebaut.

Seltene Innenaufnahme

Allein auf den fünf Kilometern entlang der Bundesstraße 1 zwischen der Strengbrücke und dem Glindower Eck gab es einst fünf Gaststätten, darunter die älteste außerhalb der Insel: Die Goldene Kugel. Das Restaurant hatte einen gemauerten Sims mit einer kugelförmigen Aussparung auf dem Dach, daher der Name. Erbaut und betrieben wurde es vom Besitzer der Ziegelei am nahen Glindower See. Die Ziegeleimitarbeiter und die Durchreisenden auf der Hauptstraße Potsdam–Magdeburg waren auch die Hauptkunden der Wirtschaften. Der erste schriftliche Nachweis für das Restaurant, den Erhard Schulz bisher gefunden hat, stammt aus dem Jahr 1823. „Allerdings heißt der benachbarte Weg schon auf einer Karte von 1819 Kugelweg, und ich gehe stark davon aus, dass der Weg nach dem Restaurant benannt ist“, sagt Schulz. Der Weg heißt noch immer so, das Restaurant wurde jedoch 1963 abgerissen. So erging es den meisten Wirtschaften: Entweder mussten sie Neubauten Platz machen, oder sie wurden in Wohnungen umfunktioniert.

Diesem Schicksal entgangen ist die 1905 errichtete Bismarckhöhe, die größte der einstmals fünf Höhengaststätten der Stadt – und die einzige, die noch in Betrieb ist. Sie ist auch das mit Abstand beliebteste Bildmotiv der Werderaner. „Allein vom Blick von der und auf die Bismarckhöhe habe ich mehr als 400 Postkarten“, sagt Erhard Schulz. Besonders beliebt ist das Motiv „Dampfer am Anleger“. Letzteren gab es einst extra für die Besucher der Gaststätte. Seitenweise ist der Sammelordner mit dem Motiv gefüllt.

Selten hingegen sind Innenaufnahmen aus den Lokalen. „Die Karten waren ja Werbung für die Gaststätten, und die meisten Inhaber haben lieber mit der schönen Außenansicht geworben“, erklärt Schulz. Besonders die Bismarckhöhe, von deren Terrasse aus man bei gutem Wetter sogar das Neue Palais in Potsdam erkennt. Stolz ist Schulz deshalb, eine Aufnahme eines Balles im Saal der Bismarckhöhe aus dem Jahr 1919 zu haben: Befrackte Herren und Damen in weißen Kleidern wiegen sich unter Kronleuchtern und Stuckdecke, auf der Bühne spielen Geiger und Bläser auf. Die Nischen daneben sind mit Frauenstatuen verziert.

Falsche Beschriftungen

Solche Raritäten, die auf Sammlerbörsen im Internet oder Ebay angeboten werden, kosten den Sammler bis zu 60 Euro. Häufigere Motive aus dieser Zeit gibt es schon ab etwa zwölf Euro. Doch Schulz fühlt sich besonders mit der Bismarckhöhe verbunden: Der Diplomingenieur war bei der Sanierung des Ballsaals vor zehn Jahren Fachbauleiter für die Tischlerbauten, die er aus allen Blickwinkeln kennt. Seit der Sanierung wird im Saal jedes Jahr das Baumblütenfest mit einem Ball eingeleitet. Das Fest war auch der Hauptabsatzmarkt für die Postkarten. Selbst Bauern, die nur kleine Verkaufsstände am Hohen Weg hatten, haben Karten produziert, wie ein Exemplar von 1907 zeigt. Eine Frau verkauft vorm Garten Wein und blühende Äste, der Kunde mit Zylinder trägt die Flasche in einem Netz am Hosenbund.

Eine ähnliche Gesellschaft ist auch auf einer kolorierten Postkarte aus der Zeit vor der Friedrichshöhe abgebildet. Die Karte hat jedoch einen Makel: Laut Aufschrift zeigt sie die Wachtelburg, die älteste Höhengaststätte Werders. „Die Besucher haben das nach dem ein oder anderen Obstwein sicher nicht mehr gemerkt“, schätzt Erhard Schulz. Hauptsache, sie hatten schöne Erinnerungen.

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