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Voller Tatendrang. Der 82-jährige Fotograf Thomas Billhardt mit seinem neuesten Bildband. Der Kleinmachnower plant auch neue Ausstellungen.

© Andreas Klaer

Porträt | Fotograf Thomas Billhardt: "Ich konnte in der DDR leben, weil ich reisen konnte"

Thomas Billhardt, der 82 Jahre alte renommierte Fotograf der DDR. plant neue Ausstellungen und einen weiteren Vietnam-Bildband, der auch in den USA erscheinen soll.

Von Carsten Holm

Kleinmachnow - Hanoi, im Mai 1969. In Vietnam tobt ein furchtbarer Krieg. Thomas Billhardt, 32 Jahre alt und längst einer der renommiertesten Fotografen der DDR, nimmt in einem Park Frauen und Männer bei Schießübungen auf. Plötzlich kreuzt ein junges Liebespaar den Weg. Beide haben ihre Karabiner geschultert, in der rechten Hand trägt die mädchenhafte Frau ihren Stahlhelm. 

Händchenhaltend und verträumt genießt sie den Spaziergang mit ihrem Freund. Es ist ein Moment der Stille, des Friedens und des Glücks, mitten im Krieg. Billhardt erkennt die Symbolkraft des Augenblicks und drückt auf den Auslöser. Das Foto geht um die Welt.  

Es ist die dritte Reise des gebürtigen Chemnitzers nach Vietnam, dieses Mal im Auftrag der DDR-Zeitschrift Freie Welt. Die US-Armee übersät das Land mit Bombenteppichen, Vietnamesen graben Tunnelsysteme in die Erde, unterirdische Dörfer mit Krankenstationen, Schulbänken, Bäckereien und Parteiämtern. 

Enge Zusammenarbeit mit Unicef

In Hanoi fotografiert Billhardt Kinder, die sich bei Bombenalarm in Gullys verstecken, in denen gelegentlich auch Liebespaare heimliche Zuflucht suchen. Schon 1967 ist eines seiner berühmtesten, weltweit hundertfach gedruckten Fotos entstanden: ein großgewachsener US-Bomberpilot wird von einer zierlichen Vietnamesin in Gefangenschaft abgeführt.

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Eng arbeitet Billhardt seither mit Unicef zusammen, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, oft stellt er seine Bilder in dessen Auftrag aus. Er muss Schreckliches aushalten. In Vietnam fotografiert er eine tote Frau, in deren Schädel ein Raketensplitter mit der Aufschrift „US Air Force“ steckt. 

In der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) erscheint auf einer Doppelseite das Foto einer Großmutter, die ihren am 28. Oktober 1972 von einer US-Rakete getöteten fünfjährigen Enkel betrauert. 28 Jahre später stellt er in Hanoi aus. Ein Mann zeigt aufgeregt auf dieses Foto. Es ist der Vater. Der Vietnamese lädt Billhardt nach Hause ein, in einem Zimmer hängt eingerahmt die Doppelseite der NBI. 

Liebe im Krieg. Bewaffnet spaziert im Jahr 1969 ein junges Paar in Hanoi durch einen Park, fotografiert von Thomas Billhardt.
Liebe im Krieg. Bewaffnet spaziert im Jahr 1969 ein junges Paar in Hanoi durch einen Park, fotografiert von Thomas Billhardt.

© Thomas Billhardt / Camera Works

Bei Ausstellungen verzichtet er oft auf ein Honorar und bittet um Spenden etwa für die Kampagne der Freien Deutschen Jugend (FDJ) „Eine Schiffsladung Solidarität für Vietnam“. Die Nachkriegswelt ist geteilt, die Parteinahme auch: Unterstützt von der UdSSR versuchen die kommunistischen Vietcong das Land vom korrupten Regime des Südens zu befreien, das die USA am Leben halten. Die DDR steht auf Seiten der Kommunisten, Westdeutschland schlägt sich zu den USA. Wenn die DDR zeigen möchte, was der Kapitalismus anrichtet, macht sich Billhardt auf den Weg. 

Ausbildung bei seiner Mutter

Er ist rasch aufgestiegen. Studium in Leipzig, Ausbildung bei seiner Mutter Maria Schmid-Billhardt, einer namhaften Chemnitzer Fotografin. 1961 der Auftrag des Zentralrats FDJ, die Revolution in Kuba zu dokumentieren. Am 13. August wird die Mauer gebaut, zwei Tage später darf Billhardt dennoch fliegen. 

Er ist fasziniert von den Sonnenuntergängen am Malecón, der Paradestraße von Havanna, „deren Farben mich betäubten“, auch von der Schönheit kubanischer Frauen wie der Milizionärin Aleida, die er fotografiert. „Das Grau unserer DDR, das ich niemals zugab, wenn Gäste aus dem Westen mir das vorhielten, erschien mir aus der Ferne noch viel grauer“, erinnert sich Billhardt.  

Wenn er herzerfrischend unintellektuell, aber nachdenklich über sein Leben spricht, sprudeln Dutzende Anekdoten aus den damaligen sozialistischen Bruderländern Kuba, Vietnam, Nordkorea, der UdSSR, China, Mosambik, der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien, aber auch von den Philippinen, Italien und Westdeutschland aus ihm heraus. In Shanghai fotografiert er einen allenfalls Zweijährigen, dessen Hose um den Po herum ausgeschnitten ist – eine praktische Öffnung für die schnelle, windelfreie Notdurft. 

Ergreifend. Kinder suchen im vietnamesischen Hanoi in einem Gully Schutz vor den Bomben des Kriegs.
Ergreifend. Kinder suchen im vietnamesischen Hanoi in einem Gully Schutz vor den Bomben des Kriegs.

© Thomas Billhardt/ Camera Works

Politisches „Erweckungserlebnis“ auf Kuba

Den Mächtigen der Welt kommt Billhardt recht nahe. 1970 in Chile: Er fotografiert den Sozialisten Salvador Allende nach dessen Wahlsieg in einem offenen Wagen, daneben hoch zu Ross General Augusto Pinochet. Der wird ihn drei Jahre später mit US-Hilfe stürzen, worauf Allende sich das Leben nimmt. Mit verbundenen Augen geht es zu einem geheimen Ort in Beirut, wo Jassir Arafat, Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, eine Bürgersprechstunde abhält.  

Vor seiner Reise nach Kuba, sagt Billhardt, sei er „eher unpolitisch“ gewesen. Dort aber habe er sein politisches „Erweckungserlebnis“ gehabt: „Fidel Castro hat vor allem den Analphabetismus beseitigen wollen, das hat mich sehr beeindruckt“. Billhardt fotografiert junge Kubaner, die der Landbevölkerung in Hütten der Sierra Marestra Lesen und Schreiben beibringen. „Die Petroleumlampen stammten aus China, Bleistifte und Lesebücher aus der DDR. Lernziel war ein selbstgeschriebener Brief an Castro“, erzählt er.  

Im Jahr 2000 erfährt er aus seiner Stasi-Akte, wie metastasenhaft sich die Schnüffler schon damals verbreitet hatten. Privataudienz bei Raúl Castro, dem jüngeren Bruder Fidel Castros und späteren Staatspräsidenten. Man trinkt im Garten seiner Villa Cuba Libre, das Nationalgetränk. Billhardt ist begeistert, er lässt sich zwei weitere Gläser servieren. Irgendein Jemand muss das nach oben gemeldet haben. In seiner Akte steht, er habe auf Kuba „zu viel getrunken“. 

Eine große Verlockung

Aber dann, auf dem Rückflug nach Ostberlin, gibt es diesen einen Moment, ein paar Sekunden nur, die sein Leben in eine andere Bahn hätten lenken können. Zwischenlandung im kanadischen Gander in Neufundland. Spaziergang im Transitbereich. Eine Tür mit dem Schild „Immigration“. Es sind nur ein paar Schritte in den Westen.  

Billhardt lässt die Tür links liegen. Mit den Bildern aus Kuba hätte er ohne Weiteres eine internationale Karriere beginnen können. „Ich flog zurück in meine Heimat, obwohl die gerade eingemauert worden war“, sagt er, „ich hatte das Gefühl, ich würde die Revolution verraten, wenn ich dort durchgehen würde“. Zu Hause gibt er Fernsehinterviews über Kuba und hält Vorträge. Seine Zuhörer sind begeistert. Worthülsenschwanger mäkelt die Stasi herum: „Der B. berichtet im Fernsehen nur von den schönen Frauen und nicht von unserer internationalen sozialistischen Solidarität im internationalen Klassenkampf.“ 

Aus dem Leben. Ein Junge in Shanghai tobt mit besonderer Hosenmode über die Straße.
Aus dem Leben. Ein Junge in Shanghai tobt mit besonderer Hosenmode über die Straße.

© Thomas Billhardt/ Camera Works

Aber er hat viel zu tun. Eine Reportage über Eisenhüttenstadt, der Text-Bild- Band „Berlin Sonnenseite“ mit dem Schriftsteller-Ehepaar Rainer und Sarah Kirsch. Ein Foto Walter Ulbrichts, „das überall aufgehängt wurde, nachdem ein Retuscheur seine Speckschwarte am Hals beseitigt hatte“.  

Unterwegs mit Erich Honecker

Fotos von Treffen des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mit dem sowjetischen Staatsoberhaupt Leonid Breschnew in Ostberlin: „Die waren nur entspannt, wenn sie einen sitzen hatten“. Er versteht sich gut mit Honeckers Frau Margot, der Volksbildungsministerin. Er schlägt eine Homestory vor, in Westdeutschland würden sich Politiker so auf lockere Weise zeigen: „Sie war offen dafür, ihr Mann aber wies das von sich“. 

Billhardt ist dabei, als Honecker hochdekorierte Veteranen aus der Nazi-Zeit empfängt und in launiger Stimmung ein Staatsgeheimnis preisgibt: Die DDR unterstütze Angola im Freiheitskampf mit Waffen: „Plötzlich spürte ich den festen Griff von Stasi-Leuten am Kragen, und dann zogen sie mich einfach weg.“ Billhardt wird mit dem Kunstpreis der DDR ausgezeichnet, auf ein Auto muss er nun statt 15 nur vier Jahre warten. Der 3. DDR-Nationalpreis später ist mit 20 000 Mark dotiert – der Preis für einen Lada.  

In Kuba begeistert das Auge des Fotografen Billhardt eine Milizionärin. 
In Kuba begeistert das Auge des Fotografen Billhardt eine Milizionärin. 

© Thomas Billhardt/ Camera Works

Eine Dokumentation der Missstände in der DDR ist nicht erwünscht. Ebenso gebietet es die DDR-Ästhetik, Werktätige vor unvorteilhaften Aufnahmen der Parteigrößen zu schützen. Mitunter aber geht etwas durch. 1973 kommt die hochgewachsene, attraktive US-Kommunistin Angela Davis nach Ostberlin. Für einen besonderen Bruderkuss muss sie sich tief bücken, weil der kleine, dickliche SED-Spitzenfunktionär Hermann Axen ihr von dort unten seine Lippen entgegenstreckt. Billhardt gelingt ein grotesker Schnappschuss. Zu seiner Überraschung wird er nicht konfisziert. Oft aber müssen seine Mitarbeiter Fotos in der Abteilung Agitation und Propaganda des SED-Zentralkomitees vorlegen: Dieses Bild ja, dieses hm, jenes auf gar keinen Fall. Handschriftlich steht dann auf dem Rand: „Gesperrt“. 

Anstellung im parteinahen Verlag

Der Staat der Arbeiter und Bauern tat viel dafür, um ihm ein kommodes Leben zu ermöglichen. „Thomas Billhardt war ein wichtiger Mann für die DDR“, sagte Hans Modrow (Linke) den PNN, „im Zentralkomitee der SED waren wir uns einig, dass wir eine Form finden mussten, die ihm Auslandsreisen ermöglicht. Wir waren sicher, dass er immer zurückkommt.“ Seine Bilder hätten der DDR „die Chance gegeben, international in Erscheinung zu treten“. Billhardt sagt heute dazu: „Ich konnte in der DDR leben, weil ich Reisen konnte:“ 

Weltweiter Erfolg. Billhardts Foto, auf dem eine zierliche vietnamesische Kämpferin einen US-Piloten in Gefangenschaft abführt, wird hundertfach gedruckt.
Weltweiter Erfolg. Billhardts Foto, auf dem eine zierliche vietnamesische Kämpferin einen US-Piloten in Gefangenschaft abführt, wird hundertfach gedruckt.

© Thomas Billhardt/ Camera Works

Er wird in einem parteinahen Verlag angestellt. Dienstwagen, sieben Mitarbeiter, monatlich 3500 Mark. „Das war viel“, sagt er. 1970 etwa lag das DDR-Einkommen laut Datenbank statista für eine Vollzeitstelle bei 755 Mark. Zweimal lässt er Stasi-Anwerbungsversuche leerlaufen, was wohl nur wegen seiner guten Kontakte geduldet wird. Aber einmal noch setzt das Schwert und Schild der Partei nach. 

Billhardt lässt sich nicht in die Falle locken

Auf einer Party spielen die Geheimen eine attraktive Frau an ihn heran. Im Bett fragt sie ihn nach getaner Arbeit wie nebenbei, ob er manchmal daran denke, in den Westen abzuhauen. Billhardt erkennt die Falle. Zwischen Kissen und Decken hebt er zu einer Art Glaubensbekenntnis an: Es sei für ihn „völlig undenkbar, den ersten Arbeiter- und Bauernstaat der deutschen Geschichte zu verraten“.  

Der Tod der DDR kommt auch für ihn plötzlich und unerwartet. Am 4. November 1989 noch hat er die Protestkundgebung auf dem Alexanderplatz fotografiert, am 9. November sieht er die Bilder vom Sturm auf die Mauer im Fernsehen: „Ich traute meinen Augen nicht“. 
Es kommen schlimme Zeiten auf ihn zu. Eine „Welle des Misstrauens“ bricht über ihn herein, er bekommt kaum noch Aufträge. Kernpunkt der Kritik: Er sei „der Propaganda-Fotograf der Staatsführung“ gewesen, „mit Reisefreiheit belohnt“. 

Der Stasi getrotzt

Die Wunden sind spürbar, die all das riss. Er selbst wusste, dass er der Stasi getrotzt hatte, seine Kritiker aber glaubten ihm nicht. Beweisen konnte er das erst 2000, als er Einblick in seine Akte genommen hatte. „Das alles gehört wohl dazu, wenn man in einer Diktatur solche Privilegien hat wie ich“. sagt er heute. Mit einem klaren „Ja!“ beantwortet er die Frage, ob er ein Nutznießer des Systems gewesen sei. Aber er legt Wert darauf, „nichts Verwerfliches getan, und vor allem, niemanden ausspioniert zu haben“. 

Doch der so lange Zeit Bewunderte ertrug es nicht, von seinem hohen Sockel tief hinab in den Keller der Geächteten zu stürzen. 2002 wanderte er mit seiner Frau Anita in die italienische Emilia Romagna unweit von Parma aus. Billhardt war flüssig, weil er sein Archiv an die Internet-Galerie Camera Work verkauft hatte, er restaurierte eine Ruine. „Es war eine wunderbare Zeit“, sagt er, „endlich konnte ich das, was ich meiner Frau durch meine andauernde Abwesenheit angetan hatte, zumindest ein wenig wiedergutmachen“. 

Rückkehr nach Kleinmachnow

Doch nach fünf Jahren zog es das Paar, das seit mehr als 50 Jahren verheiratet ist, zurück in seine Heimat nach Kleinmachnow. Sein Sohn Steffen ist Mode-Fotograf auf den Philippinen, seine Tochter Katrin war Ergotherapeutin. Sie erlag 2016 einer Tumorerkrankung.
Die Anerkennung, die ihm nach der Wende versagt worden war, wurde ihm 2019 zu teil. Der Berufsverband Freier Fotografen und Filmgestalter nahm ihn in seine „Hall of Fame“ auf: Er habe unvergessliche Bilder des 20. Jahrhunderts aufgenommen.  

Billhardt ist jetzt 82 Jahre alt und noch längst kein Greis. Er arbeitet an einer Ausstellung im Berliner Kaufhaus Alexa mit Fotos vom Alexanderplatz. Sie wird im Frühjahr auch in der toskanischen Stadt Prato nahe Florenz zu sehen sein. In derselben Stadt zeigt Unicef seine Fotos von Kindern der Welt. Im nächsten Jahr soll ein weiterer Vietnam-Bildband publiziert werden. „Die Chancen stehen gut, dass er auch in den USA erscheint“, sagt Thomas Billhardt.

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