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Im heutigen Wohnhaus im Striewitzweg waren einst weibliche Insassen eines Arbeitslagers untergebracht.

© S. Schuster

NS-Zwangsarbeit in Kleinmachnow und Teltow: Vergessenes Grauen

Mehrere Tausend Kriegsgefangene schufteten unter der Nazi-Diktatur in Kleinmachnow und Teltow. Nun wird der letzte Zeitzeuge 90.

Kleinmachnow/Teltow - Abends an einem gewöhnlichen Tag ertönte plötzlich ein herzzerreißender Schrei: Oj Mama, oj Mama, oj Mamotschka! Ein Mädchen, das mit einer Hand ihre andere hielt, kam angerannt. Sie hatte sich selbst Finger der linken Hand abgehauen. Ich ging in die Küche und sah auf einem Brett zwei kleine weiße Finger liegen. Daneben das Beil.“ Es war nahezu die einzige Chance, das Lager zu verlassen: Kranke und Krüppel wurden nach Hause geschickt, berichtet Iwan Potapenko in seinen Erinnerungen. Obwohl er sich selbst jeden Morgen Soda in die Augen rieb, um Krankheit vorzutäuschen, gelang ihm die Flucht nicht. Anstelle der erhofften Freilassung wurden ihm Augentropfen verabreicht.

Erst nach 60 Jahren brachte Potapenko die Kraft auf, die Erinnerungen an Kleinmachnow niederzuschreiben

Potapenko war gerade 14 Jahre alt, als er im Juni 1942 aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde. Erst mehr als 60 Jahre später brachte er die Kraft auf, seine Erinnerungen an die Zeit im Zwangsarbeiterlager der Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG) in Kleinmachnow niederzuschreiben. Oft sehe er im Traum das Werk, das Lager, seine Zimmerkameraden und frage sich, was aus ihnen geworden ist. Viele leben heute nicht mehr. Potapenko ist einer der letzten Augenzeugen des Kleinmachnower Lagers. Am 23. April wird er 90 Jahre alt.

„Gut geht es ihm nicht“, sagt Axel Mueller vom Kleinmachnower Heimatverein, der noch heute lockeren E-Mail-Kontakt zu Potapenko hält. Die Lage in der Ukraine mache ihm zu schaffen, berichtet Mueller, der ihn als einen zutiefst enttäuschten Menschen beschreibt, der an die Lauterkeit des sowjetischen Systems geglaubt habe.

Vor drei Jahren habe Mueller ihn in der Ukraine besucht. Zuvor war Potapenko zweimal hier. 2006, als zur Erinnerung an die Zwangsarbeiter auf dem Gelände der ehemaligen Dreilinden Maschinenbau GmbH eine Gedenkstätte eingeweiht worden war, und später noch einmal zur Vorbereitung seines Buchs, das er in Zusammenarbeit mit dem Heimatverein vor vier Jahren herausgab.

Dem ehemaligen Zwangsarbeiter fällt es heute noch schwer, sich an das Erlebte zu erinnern

Auch heute noch fällt es dem ehemaligen Zwangsarbeiter schwer, sich an das Erlebte zu erinnern. Tauchen Episoden aus längst vergangenen Tagen wieder auf, werde ihm schwindelig, er bekomme Atemnot. „In der Brust entstehen stechende Herzschmerzen, dann muss ich entspannen, tief durchatmen und abschalten“, schreibt er.

Hinter zweifachem Stacheldraht, von Soldaten auf Türmen bewacht, wurde der Ukrainer wie Hunderte weiterer Mädchen und Jungen, Männer und Frauen fast drei Jahre lang gefangen gehalten. Zu Anfang waren es verschiedene Hilfsarbeiten, die er ausführen musste. Er sortierte um, verpackte. Später polierte er eigenständig an einer Maschine kleine Motorenteile, die für Flugzeuge und die Aufrüstung der Nationalsozialisten bestimmt waren.

Mehr als die Hälfte der Beschäftigten waren Kriegsgefangene

Versteckt im hohen Kiefernwald war schon Mitte der 1930er Jahre am Rande Kleinmachnows eine moderne Rüstungsfabrik entstanden, die kurz nach Machtübernahme vom Reichsluftfahrtministerium und der Robert-Bosch-AG, als Mutterkonzern der DLMG, beschlossen worden war. Als Ersatz für die zur Wehrmacht eingezogenen Männer setzte die DLMG wie viele andere Industriebetriebe ausländische Arbeiter ein, ein riesiges Barackenlager entstand. Mehr als die Hälfte der 5000 Beschäftigten waren am Ende Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter aus Russland und Tschechien, aber auch Italien, Frankreich oder Holland. Auch ein KZ-Außenlager entstand, in das 1944 rund 800 polnische Mädchen und Frauen kamen, die meisten von ihnen aus dem aufständischen Warschau. Ihre Stuben, ein fensterloser Kellerraum mit Etagenpritschen, die sich jeweils 30 bis 40 Frauen teilten, befanden sich direkt unter der Werkshalle, am äußersten Rand des Geländes.

Lange blieb Kleinmachnow ein Ort ohne Gedächtnis, bis der Vorsitzende des Kleinmachnower Heimatvereins Rudolf Mach 1996 im Keller des Werkes zufällig auf alte Akten stößt, die auf das KZ hinweisen. „Noch nie hatte ich so alte Orginaldokumente gefunden. Mir war, als hätte ich einen kleinen Goldschatz gehoben“, erzählt Mach. Durch die finanzielle Unterstützung der Bosch-Enkelin Ise Bosch wurden tiefergehende Recherchen möglich. Sie beauftragte eine Historikerin, die gemeinsam mit dem Heimatverein die Geschichte der Dreilinden Maschinenbau GmbH aufarbeitete. Ein Kontakt zu einem russischen Verein in der Ukraine, vermittelt durch die damalige Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm, brachte den Heimatverein auf die Spur ehemaliger Kleinmachnower Zwangsarbeiter. Nur zwei der 15, die ausfindig gemacht werden konnten, waren noch in der Lage, der Einladung nach Deutschland zur Einweihung des „Ortes der Erinnerung“ vor zehn Jahren zu folgen, erinnert sich Axel Mueller. Einer von ihnen war Iwan Potapenko.

Neben dem in den Boden eingelassenen Denkmal gibt es heute nicht mehr viel, das an diese Zeit erinnert. Der Haupteingang zur Dreilinden Maschinenbau GmbH am Stahnsdorfer Damm 81 in Kleinmachnow ist heute Sitz des Julius-Kühn-Instituts als Nachfolger der Biologischen Zentralanstalt für Land- und Forstwirtschaft, die kurz nach dem Krieg in die Backsteinhäuser eingezogen war. Die Baracken wurden indes abgerissen, ein Teil des KZ-Außenlagers unter der inzwischen sanierten Mülldeponie am Stolper Weg begraben, erzählt Rudolf Mach.

Auch in Teltow wurde die Kriegsproduktion am Laufen gehalten

Eine zweite wichtige militärische Einrichtung entstand nach 1937 mit der Reichspostforschungsanstalt auf dem Teltower Seeberg, wo mehr als 1000 Menschen arbeiteten. Auch dort wurde, wie der Kleinmachnower Hubert Faensen recherchierte, die Kriegsproduktion durch Zwangsarbeiter am Laufen gehalten.

Ebenfalls dem Zufall geschuldet ist es, dass auch im benachbarten Teltow die Aufarbeitung ins Rollen kam. Die Gossener Mission in Berlin hatte zur Jahrtausendwende Kontakt zu zwei betroffenen Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, die annahmen, in Teltow zu Rüstungszwecken beschäftigt worden zu sein, erzählt der Teltower Heimatvereinsvorsitzende Peter Jäckel. Bei ihrem Besuch stellte sich jedoch heraus: Sie hatten sich getäuscht. Ihr Arbeitsort war nicht Teltow, sondern Treptow, erklärt Jäckel. Doch die Recherchen, die der Heimatverein aus diesem Anlass begann, beförderten ein weiteres bedrückendes Kapitel der Zwangsarbeiterlager in der Region zutage. Entlang des Industriegeländes am Teltow-Kanal, dem heutigen Gewerbepark TechnoTerrain, hatte es mehr als ein Dutzend weiterer Lager gegeben, in denen mehr als 1500 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter untergebracht waren. Sie arbeiteten für den Elektromechanik-Betrieb Heinrich List, die Curt von Grueber-Maschinenfabrik, das Dralowid- sowie das Askania-Werk. Selbst der Erfinder des Bildfernschreibers und später mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Rudolf Hell soll unter anderem junge Polinnen und Russinnen beschäftigt haben, die in einem Frauenlager zwischen Teltow und Stahnsdorf am Striewitzweg unter erbärmlichen Bedingungen lebten. 1942 wurde dem „Wehrbetrieb Dr. Hell“ der Bau eines Fabrikgebäudes an der Oderstraße genehmigt, ergaben die in einer Dokumentation zusammengefassten Recherchen des Heimatvereins. Dort sollen neben Fernschreibern wichtige Teile für die Kriegsmarine und Torpedowaffen hergestellt worden sein. Als letztes Zeugnis ist noch ein Teil der früheren Baracke des Frauenlagers verblieben, sagt Jäckel. Das Land am Striewitzweg war später Neubauern zugesprochen worden, die die Baracke zu einem Wohnhaus umbauten. Ein Ein-Mann-Bunker, der ebenfalls noch aus dieser Zeit verblieben war, sei mittlerweile ausgegraben und für einen Wohnneubau entfernt worden.

1200 Gefangene überlebten das Lager nicht

Eines der größten Lager in der Region war jedoch zwischen Teltow-Ruhlsdorf und Großbeeren in einem Wäldchen nahe der Berlin-Anhalter Eisenbahnlinie errichtet worden. Vor den Toren der Reichshauptstadt sollte einer der größten Verschiebebahnhöfe Europas entstehen. In dem Arbeitserziehungs- und Gestapodurchgangslager waren – stets bewacht von 60 bis 80 Mann – zwischen 24 000 und 25 000 Häftlinge untergebracht, gegen die Jäckel zufolge mit „unverhältnismäßiger Brutalität“ vorgegangen worden sei. Rund 1200 Gefangene überlebten das Lager nicht.

Iwan Potapenko ist indes nach dem Krieg in die Ukraine zurückgekehrt, heiratete, ist dreifacher Familienvater. Glücklich fühle er sich nicht. Sein Land wurde zu einem Land „reicher Eigentümer und rechtloser Arbeitnehmer“, schreibt er. Die einfachen Menschen leben, um zu überleben. „So geht es auch mir.“

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