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Potsdam-Mittelmark: Noch einmal Kind sein

Kindheit und Jugend in Wilhelmshorst: Eine Ausstellung zeigt historische Fotos der letzten 80 Jahre

Michendorf - Es ist 1952, junge Mädchen in festlicher Kleidung kommen fröhlich aus einer Kirche, die Sonne scheint. „Das bin ich“, sagt Christa Stiemke und zeigt auf ein Foto von sich, auf dem sie 14 Jahre alt ist. „Schauen Sie mal, das ist Pfarrer Neumann, der kam aus dem selben Ort in Schlesien wie ich“, fährt sie fort. Das Bild erzählt sehr viel mehr als nur den privaten Moment nach einer Konfirmation. Nämlich, wie die heute 78-Jährige im Jahr 1946 mit ihren Eltern nach Wilhelmshorst bei Potsdam kam, nachdem sie ihren Heimatort Jauer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlassen musste. Zu sehen ist diese Szene in der Ausstellung „Kindheit und Jugend in Wilhelmshorst im 20. Jahrhundert“, die am Samstag im Wilhelmshorster Gemeindezentrum mit rund 40 Besuchern eröffnet wurde.

Fotos, Spielzeuge, Liederbücher – über ein Jahrzehnt wurde Material gesammelt: „Wir haben in 15 Jahren fünf Terabyte Geschichte in Bildern gesammelt – das sind rund 5000 bis 7000 Fotos“, erzählt Rainer Paetau, Vorsitzender der Freunde und Förderer der Wilhelmshorster Ortsgeschichte. Der Verein hat die Ausstellung organisiert und zeigt eine Auswahl aus den Jahren von 1910 bis 1990. Beigesteuert haben die Fotos nicht nur alteingesessene Wilhelmshorster – auch Menschen, die durch die Brüche in der deutschen Geschichte den Ort verlassen haben, schickten ihre Erinnerungen ein.

Unerwartet erhielt der Verein etwa Material von einem Ehepaar aus Vancouver in Kanada, das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen hat – zu ungewiss war die Zukunft im geteilten Land. Von der Tätigkeit des Vereins erfuhr das Ehepaar im Internet. „Die Weggegangenen haben immer noch ein großes Interesse an ihrer alten Heimat“, sagt Paetau. Dem Verein liegt die Aufarbeitung der Wilhelmshorster Geschichte am Herzen. Fotos seien wichtige historische Quellen, die einen anschaulichen Einblick in vergangene Zeiten geben können, so Peatau. Dennoch seien es immer nur Ausschnitte, ein Abgleich mit anderen Quellen sei jedoch unerlässlich.

Was sich aus den Fotos, auch ohne das Kennen der dazugehörigen Geschichte, herauslesen lässt, ist erstaunlich. Da ist zum Beispiel das Foto einer Schulklasse von 1924. Beim ersten Blick sieht man ganz normale Kinder im Alter von etwa zehn, elf Jahren. Doch bei genauerer Betrachtung fällt auf: Die meisten von ihnen tragen keine Schuhe. Einige sehen so aus, als hätte man ihnen gerade die Schädel rasiert, um sie zu entlausen. Sie tragen Lumpen. „Das Bild erzählt sehr viel“, sagt Paetau. Die Armut in Folge des 1. Weltkrieges war in den 1920er-Jahren auch in Wilhelmshorst deutlich zu spüren.

Auch die anderen Bilder der Ausstellung – diese ist chronologisch konzipiert – spiegeln den Lauf der weiteren wechselvollen Geschichte Deutschlands wider. Auf einem zum Beispiel ist es Sommer. Mädchen in weißen Kleidern, mit Blumenkränzen im Haar, tanzen paarweise im Kreis, um sie herum stehen junge Männer. Vielleicht sind es ihre Verehrer, ihre Zukünftigen oder einfach nur ihre Brüder – das Schwarz-Weiß-Foto, auf dem diese Szene voller Leichtigkeit zu sehen ist, sagt es seinem Betrachter nicht. Nur eines erfährt er: Es ist 1932.

Vielleicht hat der Fotograf den letzten unbeschwerten Sommer dieser Jugendlichen festgehalten. Denn schon im Januar 1933 wird Adolf Hitler an der Macht sein, die Zukunft der damals noch unbeschwert Tanzenden durch seine Politik und Kriegsvorbereitungen für immer verändern. Ein Foto von 1936 zeigt wieder tanzende Mädchen in weißen Kleidern, dieses Mal unter Hakenkreuzfahnen. Auf einem Foto trommeln Pimpfe, auf Familienporträts tragen Söhne Wehrmachtsuniformen, nach 1945 marschieren Jungpioniere durch die Straßen. Im Hinterkopf hört der Betrachter Musik, erinnert sich vielleicht an Lieder, die er einst lernte.

Für die Freunde und Förderer der Wilhelmshorster Ortsgeschichte liegt es deshalb nahe, sich mit der Rolle der Musik in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen in den politischen Systemen des 20. Jahrhunderts zu befassen. Zu sehen sind in der Ausstellung auch Liederbücher.

„Gemeinsames Singen ist ein positives emotionales Moment“, erklärt die Musikhistorikerin Juliane Brauer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung den Ausstellungsgästen. Und wurde deshalb gezielt in politischen Jugendbewegungen eingesetzt, weil es eine starke, eben emotionale Bindung schuf. Als sie Lieder aus DDR-Zeiten mit einem CD-Player vorspielt, wird es verständlich: Nicht wenige der Besucher singen sofort mit, lächeln, erinnern sich.

Geschichten, die sich über die ausgestellten Bilder erzählen lassen, hat Paetau bereits vor Jahren in dem Buch „100 Jahre Wilhelmshorst 1907 – 2007. Eine Waldsiedlung vor den Toren der Hauptstadt“ gesammelt. Auch Christa Stiemke, die als Konfirmandin auf dem Foto so strahlend lächelt, hat dafür ihre Erlebnisse von ihrer Flucht aufgeschrieben. Was sie als Kriegskind empfand, weiß sie noch ganz genau: Angst und Heimweh. Dass aktuell wieder so viele Menschen auf der Flucht sind, beschäftigt sie sehr. „Wir waren zwar Deutsche in Deutschland, aber uns wollte man zuerst auch nicht.“ Spätestens da begreift man: In der Ortsgeschichte spiegelt sich stets die Weltgeschichte. Und diese hat einen langen roten Faden, der bis in die Gegenwart reicht. Man muss nur ganz genau hinsehen und zuhören. A. Lütkewitz

Die Ausstellung ist noch am 19., 26. und 27. 11 im Gemeindezentrum Wilhelmshorst, Albert-Schweitzer-Straße 9-11, jeweils von 14 bis 18 Uhr zu sehen

A. Lütkewitz

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