zum Hauptinhalt
Die gemütlichen Sessel und das Canapé hat Heidi Garbe von einer Bekannten, die mit 101 Jahren in ein betreutes Wohnen gezogen ist. 

© Andreas Klaer

Muckerstube: Das Werdersche Familiengefühl

In der Muckerstube hat Heidi Garbe das Leben von vor hundert Jahren nachgestellt. Jetzt schließt sie, weil "es hier und da knackt".

Von Enrico Bellin

Werder (Havel) - Der 24. Dezember 2019 wird Heidi Garbes erster Heiligabend seit Jahren, an dem sie nicht am frühen Morgen in die Küche ihrer Werderaner Muckerstube geht, um frische Kuchen und Torten für die Nachmittagsgesellschaft zu backen: Nach zwölf Jahren schließt Garbe ihre Heimatstube, in der das Leben der Werderaner Obstbauern, umgangssprachlich Mucker genannt, von vor hundert Jahren nachgestellt wird. „Ich bin inzwischen in einem knackigen Alter. Es knackt hier und da“, sagt die 68-Jährige mit lachendem Gesicht und zeigt auf Knie und Ellenbogen.

Offiziell geschlossen ist die Muckerstube ab 1. Januar. Die letzte Gästegruppe hatte Garbe aber am 14. Dezember empfangen, ein Familienfest mit 25 Personen. Von 6 bis 18 Uhr sei sie da auf den Beinen gewesen, das sei inzwischen einfach zu viel. Allein zehn Kilogramm Kartoffeln musste sie schälen. Selbst das Stampfen der gekochten Kartoffeln zu Brei machte sie per Hand, eine Küchenmaschine findet sich in der Muckerstube nicht. „Oma hatte schließlich auch keine“, so Garbe, die mit vollem Namen Heidemarie heißt, von allen aber nur Heidi oder Muckersche genannt wird. Schon seit zwei Jahren war die Stube nur noch auf Vorbestellung geöffnet. Die habe es aber reichlich gegeben, so Garbe.

Garbe hatte selbst einen Obstbetrieb

Die Diplom-Gartenbauingenieurin hatte sich 2007 mit der Muckerstube in dem Haus in der Brandenburger Straße, in dem schon ihre Mutter geboren wurde, selbstständig gemacht. Zuvor arbeitete sie bei einem Obstbetrieb, im Winter war sie arbeitslos. Da habe sie nichts mit sich anzufangen gewusst. „Meine damals 25-jährige Tochter meinte dann: Mutter, jetzt reichts. Mach’ endlich was, was dir Spaß macht.“ Dem Rat sei sie gefolgt.

Die Familie ist ein Werderaner Urgestein, Garbes Großvater war im 19. Jahrhundert Fruchtsaftpressereibesitzer. Dementsprechend groß war der Fundus: Die Holzschränke gehörten einst zur Aussteuer der Großmutter. Der kleine Puppenwagen in der Ecke wurde um 1920 von einem Werderaner Korbflechter für Heidi Garbes Mutter geflochten. Drinnen liegt historisch korrekt ein einfaches Holzpüppchen. „Hübsche Porzellanpüppchen konnten sich die meisten Werderaner ja nicht leisten“, sagt die Muckersche. Teile der Ausstattung haben aber auch Bekannte gespendet, etwa das Canapé und die urgemütlichen Sessel in der „Guten Stube“.

Treffpunkt für viele Vereine

Was damit passiert, ist noch nicht klar. Garbe will das Haus im Werderaner Zentrum verkaufen, die vielen Stufen würden jetzt langsam zur Hürde. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten will sie in eine Wohnung am Stadtrand ziehen. Es gebe bereits mehrere Kaufinteressenten. Am liebsten wäre Garbe jemand, der sich für die Stadtgeschichte interessiert und ihre Sammlung übernimmt. Genauer möchte sie sich zur Zukunft aber nicht äußern. „Wir warten mal ab. Gottes Wege sind unergründbar.“ Das habe schon ihr Opa oft gesagt, und es gelte auch jetzt. Druck, schnell zu verkaufen und das Inventar loszuwerden, habe sie aber nicht. „Meinen 69. Geburtstag in drei Monaten will ich auf jeden Fall in der Muckerstube feiern.“

Der Ort war in den vergangenen Jahren auch Treffpunkt für die Stadtführergilde, den Heimatverein oder den Obst- und Gartenbauverein. Auch für die Werderaner selbst sei die Muckerstube eine Anlaufstelle gewesen. „An Heiligabend kamen immer die Singles zum Kaffee zu mir. Damen über 60, die meist verwitwet waren.“ Alle seien einzeln gekommen. Garbe habe sie dann an einen Tisch gesetzt, sodass sie miteinander ins Gespräch kommen und ihre Einsamkeit für ein paar Stunden vergessen konnten.

Sie hat auch mal den Rohrstock auf den Tisch geknallt

Ein Familiengefühl wollte Garbe in der Muckerstube immer vermitteln, sagt sie. Und dazu die Geschichten der Stadt. Anfang Dezember habe sie noch eine zweite Klasse empfangen. „Die krakelten durcheinander und waren kaum zu bändigen. Da habe ich den alten Rohrstock genommen und einmal auf den Tisch gehauen.“ Dann war Ruhe, sagt Garbe, und sie habe den Kindern erklären können, welche Erfahrungen sie vor hundert Jahren mit solch einem Rohrstock gesammelt hätten.

Erstaunt seien die Kleinen dann auch gewesen, als sie ihnen erzählte, dass die Jungs vor hundert Jahren selbst jetzt im Dezember mit kurzen Hosen herumgelaufen waren. Zwar trugen sie lange Socken, die vorn mit Haltern am Hemd befestigt waren. „Hinten haben dann an den Beinen aber oft zehn Zentimeter nacktes Fleisch hervorgeschaut, auch bei zehn Grad Minus.“ Die ersten langen Hosen hätten die Jungs erst mit der Konfirmation bekommen. „Das war dann meist die umgenähte Hochzeitshose des Vaters.“

Weihnachten via Skype

Statt solche Geschichten an Schulkinder weiterzugeben, hat Heidi Garbe nun mehr Zeit, sie ihren eigenen Enkeln erzählen. Am Sonntag wird die Tochter des Lebensgefährten in Hamburg besucht, gemeinsam mit den sechs Enkeln geht es auf den Weihnachtsmarkt. „Dafür hatte ich sonst nie Zeit gehabt“, sagt die Muckersche. Ihre eigene Tochter lebt mit den zwei Enkeln in Kanada. Knieprobleme machen den langen Flug unmöglich. Trotzdem wird der Heiligabend gemeinsam verbracht: „Um 14 Uhr mache ich meinen Computer an und starte Skype. In Kanada ist es dann 8 Uhr morgens, dann Frühstücken wir alle zusammen.“ Manchmal ist Heidi Garbe dann doch froh, nicht wie vor hundert Jahren leben zu müssen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false